Sonntag, 16. August 2015

Ken-geki

„Erzählen ist das einzige Spiel, das zu spielen sich lohnt.“ (Federico Fellini)
Sie waren keine Feinde. Er wusste noch nicht einmal, warum sie die Schwerter in dieser Winternacht mit in den Park genommen hatten. Reiner Übermut, eine romantische Spinnerei. Sie mochten beide die alten Kurosawa-Filme. Schwarz-weiß. Kämpfende Samurai. Es lag tiefer Schnee und sie waren ganz allein. Sie hatten einen Zweikampf begonnen. Nur ein Spiel. Er sah es an seinem Gesicht. Sie wollten die Schwerter nur ausprobieren. Die Posen der Kämpfer aus dem Film. Die Klingen kreuzten sich. Das Geräusch, wenn das Schwert durch die Luft fuhr. Er war ganz entspannt. Kein wirklicher Kampf. Aber dann hatte er ihn am Hals getroffen. Er sah das erschrockene Gesicht seines Kollegen noch vor sich. Takashi rannte weg und verschwand in der Dunkelheit. Unschlüssig blieb er stehen. Dann folgte er den Fußspuren. Den Blutspuren. Und dann fand er ihn. Er war tot. Das Schwert hatte ihn an der Halsschlagader getroffen. Er konnte ihm nicht mehr helfen. Also ging er in dieser Nacht davon.
Am nächsten Tag beschloss er, eine Reise zu machen. Er buchte im Internet ein Ticket nach Europa. Er rief seinen Chef an und bat um Urlaub. In der Firma wusste man schon Bescheid. Die Leiche war gefunden worden. Da sie immer als Wachmänner zusammen Dienst gehabt hatten, schlug sein Chef vor, er solle die Mutter aufsuchen und im Namen aller sein Beileid aussprechen. Er sagte zu und fuhr zu der Adresse, die man ihm am Telefon gesagt hatte. Es war ein furchtbares Gespräch. Die Mutter lebte alleine. Sie war wie betäubt. Konnte es noch gar nicht fassen. Er konnte ihr nicht sagen, was wirklich passiert war. Er war froh, als er wieder auf der Straße war.
Als er in seiner Wohnung seine Sachen packte, fand er die Rechnung. Er hatte die Schwerter gekauft. Eigentlich schuldete der tote Kollege ihm noch das Geld für die Waffe. Das Schwert! Er musste es loswerden. Zunächst reinigte er es gründlich. Dann packte er es mitsamt der Schwertscheide in eine Sporttasche und ging an den Fluss. Er war noch nicht zugefroren und so warf er es ins Wasser. Dann ging er in den Park. Die Kinder spielten im Schnee. Sie bewarfen sich mit Schneebällen. In einiger Entfernung stand ein großer Schneemann. Daneben ein kleiner Schneemann und zwei winzige Schneemännchen. Eine richtige Familie. Er formte einen Schneeball und warf ihn nach dem Schneemann. Tatsächlich traf er ihn. Da drehte sich der Schneemann um und kam auf ihn zu. Es war ein Mann, der einen langen weißen Kapuzenmantel trug. Er lachte und hob ebenfalls etwas Schnee auf. Aber als er das erschrockene Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen sah, die ihn voller Entsetzen anblickten, drehte er sich wieder um und ging zurück zu seiner Familie.
Nachdem die Familie verschwunden war, verließ er ebenfalls den Park. In seinem Stammlokal wollte er einen Tee trinken. Auf dem Weg begegnete ihm eine Gruppe junger Leute mit Stöcken, an deren Spitze lange Nägel befestigt waren. Sie spießten Abfall auf und warfen ihn in blaue Säcke. Umweltschützer, dachte er. Und dennoch erinnerten sie ihn an die schreckliche Nacht, in der er Takashi getötet hatte. Dann war er endlich im Restaurant. Am Tisch gegenüber saßen drei junge Frauen, die über die Speisekarte kicherten.
Europäerinnen oder Amerikanerinnen. Sie zeigten sich gegenseitig die Bilder auf der Speisekarte und lachten. Am Tisch neben ihm saß ein Mann, der offensichtlich ein Steak bestellt hatte. Ein scharfes Messer mit schwarzem Griff lag vor ihm auf dem Tisch. Er ließ seinen Tee stehen, stand auf und ging an die Theke. Die Wirtin war ganz erstaunt, dass er schon gehen wollte, ohne etwas zu essen. Er wollte bezahlen und hatte seine Brieftasche in der Hand. Du brauchst nicht zu bezahlen, sagte sie. Du gehst doch jede Nacht durch unser Viertel und bewachst es. Widerwillig steckte er sein Geld wieder ein.
Du bist doch morgen Abend mit meiner Kellnerin verabredet, fuhr sie fort. Er hatte es ganz vergessen, aber er nickte. Sag die Verabredung bitte ab. Er nickte wieder und ging aus dem Lokal. Er war erleichtert. Am Abend würde das Flugzeug ihn weit weg bringen. Dann wachte er auf.
Paul McCartney & Wings – Goodnight Tonight. https://www.youtube.com/watch?v=DRCgueckAXE

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