Sonntag, 9. August 2015
Das Picknick
Es war einmal ein Mann, der ging in eine Gemäldegalerie und kam nicht wieder heraus.
Die Galerie befand sich im Gartenhaus eines herrschaftlichen Anwesens in der Lübecker Innenstadt. Der Mann betrat durch den Hofdurchgang des Hauses das Grundstück und fand sich in einem kleinen Garten wieder, an dessen Ende das einstöckige, weiß gestrichene Gebäude stand. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte ein sehr blasses Gesicht, aus dem eine rote, knollenförmige Nase unvorteilhaft hervorstach. Sein breiter, fast lippenloser Mund senkte sich in zwei tief eingefurchte Mundwinkel und seine kleinen Augen hatten einen hellgrauen Farbton.
Im Erdgeschoss der Gemäldegalerie saß eine junge Frau hinter einem Tisch, die in einem Buch las. Er nickte ihr nur kurz zu, als sie bei seinem Eintreten aufblickte. In einem großen hellen Raum, der rechts vom Eingang lag, waren einige schöne Landschaftsbilder aufgehängt, die er sich in Ruhe betrachtete. Er war ganz allein und genoss die Pastelltöne, die der Maler für einige großflächige Abbildungen der schottischen Küste gewählt hatte. Alles wirkte entspannt und ein wenig herbstlich.
Kurze Zeit später ging er zurück in den Vorraum und stieg die Treppen zum ersten Stock empor, ohne dass die junge Frau den Blick erhob. Sie schien in ihr Buch vertieft. Auch der Raum im ersten Stock war vollkommen leer. Der Mann sah sich die Bilder an und blieb vor einem Gemälde stehen, das ein Waldstück zeigte, in dessen Vordergrund eine kleine Gruppe gerade ein Picknick veranstaltete. In der Ferne sah er eine Hügelkette, vom Dunst weich gezeichnet und in blasse Farben getaucht. Er sah das Bild lange an, dann sah er aus dem Fenster. Der Garten lag in der Sonne, nichts bewegte sich. Lange blieb er vor dem Bild stehen und versenkte sich in das Motiv.
Am Abend kam der Künstler, Tharseo Barbelo, und fragte die junge Frau, ob eines der Bilder verkauft worden sei. Die junge Frau, eine Kunststudentin aus Hamburg, die ihre Semesterferien bei den Eltern in Lübeck verbrachte, schüttelte nur den Kopf und berichtete ihm, ein Mann habe am frühen Nachmittag die Galerie betreten und sie nicht wieder verlassen. Vermutlich habe sie einfach nicht genügend aufgepasst, schloss sie gleichgültig.
Der Maler stieg in den ersten Stock und ging zielstrebig auf das Bild mit dem Titel „Das Picknick“ zu. Dort saß ein Mann in einem schwarzen Anzug und mit einer roten Nase im Gras neben den anderen. Noch einer, dachte er.
Richard Wagner - Tristan und Isolde, Vorspiel. https://www.youtube.com/watch?v=rAULLxcWSpM
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Hübsches cross-over aus einem fernöstlichen Erzählsel und den hierwestlichen, gemalten "Frühstücken im Grünen".
AntwortenLöschenIch sitze übrigens ebenfalls gern in Deiner Version.
Vielen Dank für die Blumen.
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