Sonntag, 23. August 2015

Das schwarze Notizbuch 1

Ich lehne meine Stirn an das kalte Glas der Fensterscheibe und sehe hinaus. Ein Hinterhof in Moabit. Die Wände der Häuser sind so alt, dass sie die Farbe der Erde angenommen haben. Es ist nichts zu hören. Das ist gut, denn ich bin müde.
Mein Name ist Barley Malt und ich verkaufe chinesische Badezimmerarmaturen. Den ganzen Tag habe ich den schweren Koffer mit den Muster-Wasserhähnen aus Shanghai durch die Stadt geschleppt, habe Bürohäuser und Hotels abgeklappert, und bin abends todmüde im Zimmer meines schäbigen eineinhalb-Sterne-Hostels angekommen, das in einem düsteren Hinterhof der Bochumer Straße liegt. In einer Halterung unter der Zimmerdecke kauert die TV-Briefmarke mit Röhrenbetrieb, wie ich sie als Reisender aus den amerikanischen Motels des vergangenen Jahrhunderts kenne.
Ich lege mich aufs Bett und erwache eine Stunde später hungrig und schweißgebadet. Neben dem Bett steht ein wackeliges Nachtschränkchen, in dessen einziger Schublade ich – statt dem üblichen Neuen Testament der Gideon-Brüder – die Flyer eines Pizzaservices vermute. Schließlich trägt das Hostel den Namen „Bonghole“ und ich kenne diese Art von Absteigen zur Genüge. Ich ziehe die Schublade heraus und habe das zerbrechliche Ding im nächsten Moment komplett in der Hand. Die Karte von „Peperoni Palace“ flattert auf den Fußboden. Etwas ratlos schaue ich die Schublade in meiner Hand an. An ihrem Boden ist ein Schlüssel mit einem Klebestreifen befestigt. Ich löse ihn ab. Es ist ein Schließfachschlüssel. Wie oft habe ich mein Gepäck in einem Schließfach gelassen? Aber zu welchem Bahnhof gehört er? Ich beschließe, am nächsten Morgen die Bahnhöfe der Stadt abzuklappern. Am Bahnhof Zoo werde ich anfangen.
***
Ich habe nicht gut geschlafen und das Frühstück war lausig. Was kann man beim Kaffeekochen alles falsch machen? Offenbar eine Menge. Ich mache meine Vormittagstour und schleife meinen Koffer durch etliche Hotels in Mitte und im Prenzlauer Berg. Hinterlasse Prospekte und Karten, nehme gelangweilte und genervte Blicke sowie eine Million dämliche Sprüche mit. Natürlich werde ich mich wieder melden, wenn 2030 die nächste Renovierung der Badezimmer ansteht. Es ist immer das gleiche. Nicht für sie, aber für mich. Ich stelle meinen Koffer im Hotelzimmer unter den Fernseher, der mich grau und stumm anglotzt. Das Schinkenbrötchen in meiner Manteltasche hat die Papiertüte schon an einer fettglänzenden Stelle durchweicht, als ich es hervorhole. Egal. Dazu ein Glas Leitungswasser aus dem Plastikbecher, den ich im Badezimmer aus seiner Folie pule.
Auf dem Bett finde ich keine Ruhe. Der Schlüssel. Komm, Alter, sage ich mir. Hat doch keinen Zweck, du musst los. Der Straßenlärm von Moabit geht mir einfach nur auf den Nerv. Das ist nicht multikulturell, das ist nicht witzig, das muss man aushalten können. In der U 9 ist gerade die Schule aus. Wieso müssen Kinder die ganze Zeit lachen und rumschreien? Können die nicht stumm in ihre Smartphones starren wie die Erwachsenen? Aber es sind nur zwei Stationen bis zum Bahnhof Zoo.
Im Gang mit den Schließfächern stinkt es nach Urin, Pennerschweiß und Hoffnungslosigkeit. Irgendwo in meiner Hosentasche zwischen dem Klimpergeld fühle ich den Schlüssel. Nummer 55. Gut. Bei meinem Glück muss ich sowieso gleich weiter zum Hauptbahnhof. Und dann stehe ich vor der 55 und muss mich noch nicht mal bücken.
Der Schlüssel passt. Ich öffne das Schließfach. Zuerst sehe ich nichts.
Auf dem Boden des Fachs liegt ein kleines, flaches, schwarzes Notizbuch. Das ist alles? Ich kann es gar nicht fassen. Wer legt denn ein Notizbuch in ein Schließfach und klebt anschließend den Schlüssel unter die Schublade eines Nachttischs im „Bonghole“? Ich nehme es heraus und betrachte es von allen Seiten.
„Sir, würden Sie uns bitte das Buch aushändigen“, höre ich eine Stimme hinter mir. Schwerer amerikanischer Akzent.
Ich drehe mich um. Zwei große Typen mit dunklen Sonnenbrillen und dunklen Anzügen stehen vor mir.
„Nein“, antworte ich spontan.
Den Kerlen wachsen kleine weiße Kabel aus den Ohren. Sie kommen auf mich zu.
Und ich renne los. Ich weiß gar nicht, warum ich es tue, aber ich weiß, dass ich es tun muss. Es ist gut so. Ich renne.
An der Taxischlange vorbei, an den Bushaltestellen vorbei. Ich laufe instinktiv zu McDonald’s. Wie oft war ich schon in dieser Filiale am Bahnhof Zoo? Und es war immer das gleiche. Vielleicht deswegen. Sicherheit, die kleine Schwester von Routine und Langeweile.
Ich öffne die Tür. McDonald’s hat einen ganz eigenen Geruch. Aber es riecht nicht nach Essen. Vor mir sind die Schlangen der Kunden, die an der Kasse warten, bis pickelige Nachwuchskräfte das System begriffen haben.
In zwei langen Reihen stehen dort junge Menschen in identischen roten T-Shirts mit der Aufschrift „Praktikum 2015“. Ich stürze mich todesmutig in die Masse und reiße eine zweihundertfünfzig Pfund schwere Blondine mit dicken Zöpfen zu Boden. Tatsächlich fallen die beiden sagenhaft dämlichen Typen über die Frau.
Ich entwische durch den Hinterausgang und schlängele sich elegant durch die Menschenmengen auf der Tauentzienstraße. Zum Glück bin ich nicht groß - und ich habe ein Gesicht zum Vergessen.
Gregorian Scarborough Fair. https://www.youtube.com/watch?v=JvbQE5tygXk

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen