Freitag, 13. Februar 2015
Eine Stadt ohne Namen
Es war längst dunkel geworden, als er die Lichter der Stadt sah. Ein Nest voll funkelnder Sterne, umgeben von endloser Finsternis. Die Landstraße führte genau auf diese Lichter zu und ihm war kalt. Der feine Nieselregen hatte sein Gesicht und seine Hände taub gemacht.
In den ersten Straßen waren nur wenige Fenster erleuchtet. Er folgte den Straßenbahngleisen in die Innenstadt. Jetzt war das Leben auch zu hören. Er lief weiter. Auf der Hauptstraße sah er viele Menschen, ihre Gesichter, ihre Rücken. Stumm verschwanden einige von ihnen in den gleißenden Rachen der Kaufhäuser.
Am Ende der Straße war ein großer Platz. Ein erstarrter uniformierter Mensch aus Metall stand auf einem Sockel. Im Licht der Straßenlaternen saß man, dass die Schultern und das Gesicht der Figur voller Taubenkot waren.
Er hatte kein Geld und so fragte er einen Kioskbesitzer, ob er ihm eine Flasche Bier schenken würde. Der alte Mann in seiner Bretterbude starrte ihn ein paar Sekunden durch die Schießscharten seiner zusammengekniffenen Augenlider an. Dann schüttelte er den Kopf.
Er ging weiter. Die Gassen wurden krumm und buckelig. Das nasse Kopfsteinpflaster glänzte im Schein der Laternen. Vor einer Kneipe standen zwei Männer in langen Mänteln und rauchten. Er fragte sie nach einer Zigarette. Einer der Männer hielt ihm ein zerknittertes Päckchen hin. Feuer hatte er selbst.
„Woher kommst du?“ fragte der Mann.
„Ich ziehe schon seit Jahren von Ort zu Ort.“
„Also bist du ein Landstreicher.“
„Wenn du mich so nennen willst.“
„Am besten gehst du zum Hafen“, sagte der Andere. „Da triffst du um diese Zeit immer Leute. Die können dir sagen, wo du pennen kannst.“
Er bedankte sich und folgte der Richtung, in die der Mann gezeigt hatte. Ein Hafen, dachte er. Also bin ich am Meer. Was soll’s? Vielleicht finde ich ein Schiff, auf dem ich arbeiten kann. Und komme irgendwo an. Eine neue Stadt. Es geht immer weiter, dachte er, als er die Zigarette austrat.
Am Hafen standen ein paar Obdachlose und hielten Weinflaschen in den Händen. Er stellte sich dazu und sie gaben ihm von ihrem Wein. Raues Gelächter.
„Du bist nicht von hier, was?“
„Nimm erst mal einen Schluck, die Nacht wird kalt.“
Und so war er eine Weile geblieben, bis sich die Wärme in seinem Bauch wie etwas Lebendiges anfühlte.
Es war spät geworden. Er schlenderte an der Mole entlang. Große Schiffe erhoben sich über ihm in der Finsternis. Die Möwen schliefen längst. Da sah er eine Frau am Rand des Kais stehen.
Sie sah ihn an und so fragte er leichthin: „Auch alleine?“
„Ja. Aber heute ist der letzte Tag.“ Ihre Augen waren schwarz und leer.
„Sie wollen Schluss machen?“
Sie nickte. „Ich werde Schlaftabletten nehmen und hinaus schwimmen.“
„Warum hauen Sie nicht einfach ab? Habe ich auch gemacht.“
„Und? Was hat’s gebracht?“
„Jetzt bin ich hier.“ Er lächelte. „Haben Sie eine Zigarette für mich?“
Sie kramte in ihrer Manteltasche und holte ein Schlüsselbund heraus. Sie ging auf ihn zu und drückte ihm den Bund in die Hand. Er fühlte sich warm an in seiner kalten Hand.
„Wissen Sie was? In meiner Wohnung liegt ein ganzes Päckchen auf dem Küchentisch. Nehmen Sie meine Schlüssel. Sehen Sie das Haus dahinten? Das Eckhaus mit den schwarzen Fachwerkbalken? Ich wohne im zweiten Stock links.“
Er sah sie fragend an.
Sie lachte. „Jetzt machen Sie nicht so ein Gesicht. Ich meine es ernst. Sie können meine Wohnung haben. Ich werde gehen. Ich verlasse diese verdammte Stadt für immer. Das ist das Beste.“
„Gut“, sagte er und nahm seinen Rucksack ab. „Nehmen Sie meinen Rucksack. Es ist noch eine halbe Salami und etwas Brot drin.“
„Danke. Leben Sie wohl.“
„Leben Sie wohl“.
Und dann ging sie fort.
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