Samstag, 21. Februar 2015
Gerhard
Langsam gehen wir in den Wald hinein. Ruheforst Rheinhessen-Nahe in Waldalgesheim. Es sind etwa dreißig Trauergäste erschienen. Die Familie des Toten: seine Frau, seine Kinder, seine Enkel. Freunde, der Bürgermeister, der Bestatter. Und die Stammgäste: die Frauen von der Kartenspielrunde (jeden Freitag), Dartspieler, Fußballfans, bewährte Tresenhelden und der Weinlieferant aus unserem Dorf. Heute wird unser Wirt beerdigt.
Es ist kein Pfarrer anwesend. Der Förster, der für den Ruheforst zuständig ist, hält eine fünfminütige Ansprache. Gerd ist 55 Jahre alt geworden. Sein Herz gehörte dem FC Bayern München und sein Traum war eine eigene Kneipe. Diesen Traum hat er sich erfüllt: die „Bierpumpe“. Der Förster erwähnt nicht die trauernde Familie und auch nicht den Lebensweg des Verblichenen. Arbeiter beim Opel in Rüsselsheim. Buckel krumm gemacht, Familie gegründet, Haus gebaut (bis heute noch unverputzt, aber es steht!). Die Sonne scheint, als wir hinter der Urne, die vom Bestatter getragen wird, zur Grabstelle laufen.
Dann wird es Zeit für den Abschied. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass dieser gewaltige Mensch in das winzige Loch passt, in das ihn der Bestatter jetzt mit professionell zerknittertem Gesicht hinab lässt. Noch irgendeine Internetweisheit des Försters und dann beginnt das Leiden. Die verheulten Familienmitglieder werfen Blütenblätter auf die Urne und manche auch Erde, für die ein Schäufelchen bereitsteht. Das helle Schluchzen der kleinen Enkelin. Wir wagen es kaum hinüber zu schauen, als sie Trost und Geborgenheit in den Armen ihrer Mutter sucht.
Dann gehen die Freunde ans Grab. Ich schaffe es nicht, andere auch nicht. Die Frauen gehen mutig nach vorne, die Tränen fließen über die Backen, der kalte Rotz läuft ihnen in den zitternden Mund und ich bewundere sie in diesem Augenblick. Eure Schwäche ist eure Größe, die uns nie vergönnt sein wird. Wir Männer dürfen nicht weinen, weder ich noch der gestandene Offizier und Großvater neben mir, mit dem ich beim Gerd so manchen Schoppen getrunken habe.
Auf dem Rückweg zum Parkplatz lösen sich Rührung und Trauer allmählich in leise Scherze auf. Man hätte doch ein Fass aufstellen können. Der bekannte Dorftrinker, der natürlich auch gekommen ist, hätte doch seinen letzten Deckel an den Baum hinter dem Grab nageln können. Die alberne Försteransprache. Bayern München erwähnt. Ausgerechnet. Wir fahren zu Edeka. Jägermeister auf Ex.
Am Abend treffen wir uns zum letzten Mal in Gerds Kneipe. Er hat es so gewollt. Und alle sind gekommen. Mit vollen Gläsern stoßen wir auf ihn an. Er hat sich gewünscht, dass nichts übrig bleibt. Dass wir alle Flaschen auf sein Wohl leer machen. Jeder gibt, was er kann, in eine Spendenkasse. Die Familie hat es schwer genug, Gerds Rente und die Kneipe waren ihr einziges Einkommen. Der letzte Wirt des Dorfes ist tot. Niemand ist traurig, aber alle sind sentimental. Erzählen Geschichten. Vor einigen Wochen hat er noch hinter der Theke gesessen. Gestanden hat er schon lange nicht mehr, weil er immer schwächer geworden ist. Die endlosen Hustenanfälle bei seinen letzten Zigaretten. Am Ende hat er nur noch Nullzweier Sinalco-Schoppen getrunken. Diese Kindergläser - für diesen riesigen Mann. Er hat kaum noch etwas essen können, immer wieder verschwand er für Wochen auf der Intensivstation des Krankenhauses in Bad Kreuznach, der Stadt, in der er geboren wurde.
Aber an diesem Abend sind noch einmal alle gekommen. Auch Hajo, der alte Matrose. Heimathafen Hamburg, letzte Anlegestelle Schweppenhausen. Hajo erzählt noch einmal seine Geschichten. Von dem sechzehnjährigem Schiffsjungen, der von einer riesigen Welle von Bord gespült wurde und von der nächsten Welle wieder an Deck getragen wurde. Diesen Tag haben sie als zweiten Geburtstag des Glückspilzes gefeiert, als der Sturm vorüber war. Wie er in Buenos Aries in einer Hafenkneipe einen Deckel gemacht hat und ein Jahr später, als niemand mehr damit gerechnet hat, wieder zurück kam und die Zeche gezahlt hat. Die ganze Nacht hat er vom Wirt alles umsonst bekommen, so hat der sich gefreut. Ich sag nur Yokohama. Drei Monate mit Maschinenschaden, jeden Abend Chinatown. Gibt’s da, kannste mir glauben. Hajo ist aus der Türkei und hat alle sieben Meere gesehen. Schon sein Vater und sein Großvater waren als Kapitän auf dem Schwarzen Meer unterwegs. Mindestens. Eher Admiral. Prost! Alte Seefahrerfamilie, sowas triffst du nur in der „Bierpumpe“.
Anne Clark - Sleeper In Metropolis. https://www.youtube.com/watch?v=aQ8GDG6Pygg
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