Sonntag, 18. Mai 2014
Mein Leben als Anarchist
Mein Leben als Anarchist begann im Herbst 1980, kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag. Am Anfang stand die Freundschaft zu einem Jungen namens I., der neu in unsere Klasse gekommen war. I. war Anarchist, was bedeutete, dass er die Lehrer, den Staat und unser Wirtschaftssystem beschissen fand und mit seinem Edding überall ein großes A mit einem Kreis drum herum hinmalte. Ich interessierte mich damals auch für Politik, aber mein Kenntnisstand erschöpfte sich in der täglichen Tagesschau im Fernsehen, in der Ablehnung eines bajuwarischen Brüllaffen namens Franz-Josef Strauß, der für die CDU/CSU in jenem Herbst das Kanzleramt erobern wollte, in einer daraus resultierenden latenten Sympathie für den Amtsinhaber Helmut Schmidt und der Ignoranz der F.D.P., die mein Vater immer wählte. Mehr als diese drei Parteien gab es damals nicht, aber wir hatten ja auch nur drei Fernsehprogramme.
Damals brachte I. regelmäßig Flugblätter (altdeutsch für „Flyer“) in den Unterricht mit, in denen zum Kampf gegen Atomkraftwerke (die ich bis dahin gut gefunden hatte), gegen Rüstungskonzerne und die sogenannten Ausbeuterschweine aufgerufen wurde. Auf den Flugblättern waren oft kleine grinsende Männchen mit langen Haaren und Vollbart zu sehen, die schwarz gekleidet waren und eine kreisrunde Bombe mit brennender Zündschnur in der Hand hielten. Das waren die Anarchisten. Und es wurden dicke Polizisten gezeigt, die sich immer dämlich anstellten oder arme Hippies quälten. Das waren die „Bullenschweine“. Häufig wurden diese Gestalten von einem gewissen „Seyfried“ aus dem sagenumwobenen „Kreuzberg“ gezeichnet. Mir war schnell klar, auf welche Seite ich gehören wollte. Und so wurde ich Anarchist und begann, mit einem Edding überall ein großes A mit einem Kreis drum herum hinzumalen.
Mein anarchistischer Schulfreund durfte mit Erlaubnis seiner Eltern, beide waren Ärzte, im folgenden Jahr von Zuhause ausziehen und in eine sogenannte Wohngemeinschaft einziehen. Er lebte zusammen mit zwei Studentinnen in einer Kellerwohnung in meinem Viertel von Ingelheim und alsbald war ich dort ständiger Gast. Wir kochten zum Beispiel zusammen und so kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit Naturreis, Gewürzen aus dem Morgenland und Kaffee aus Nicaragua. Außerdem konnten wir bei ihm die Anlage aufdrehen und die subversive Musik von „Ton, Steine, Scherben“ hören, ohne dass irgendwelche Eltern reinkamen. Einmal kam sogar ein Anarchist aus West-Berlin zu Besuch, der sehr viel trank und rauchte, schwarze Lederklamotten trug und uns erzählte, dass er weder arbeiten noch Steuern zahlen würde. Wahnsinn! Ein waschechter Staatsfeind in unserer kleinen Stadt.
Ingelheim ist zufälligerweise die Partnerstadt von Kreuzberg. Auf unserer Klassenfahrt 1981 besuchten wir Berlin und auch eine Schulklasse aus Kreuzberg. Die Leute waren wie aus „Christiane F.“: Punks, Langhaarige, Ausländer. Gab es in unserer Klasse alles gar nicht. I. war der einzige mit langen Haaren und Palästinensertuch. Echte Punks! Wir haben zwar Samstagabend auch Sex Pistols, Dead Kennedys und The Clash gehört, aber niemand in Ingelheim hätte sich getraut, mit so einem Irokesenhaarschnitt rumzulaufen. Damals hätte es von den Eltern Hausarrest, Taschengeldentzug und Schläge gegeben. Vom Gymnasium vermutlich einen Schulverweis und wieder Schläge. Damals haben die Lehrer noch zugeschlagen, ich selbst habe mal von einer älteren Lehrerin eine Ohrfeige wegen Gotteslästerung bekommen, weil ich im Mainzer Dom die Besucher mit Weihwasser bespritzt habe. Punk bist du aber die ganze Woche, nicht nur samstags für ein paar Stunden. Dazu muss man stehen. Den Mut besaß keiner von uns, auch nicht die Anarchisten. Heute ist ein Irokese banal und so beliebig wie eine Tätowierung. In meiner Jugend waren nur Schwule, Matrosen und Knastbrüder tätowiert.
Wir Ingelheimer Anarchisten haben zwar die Namen von Kropotkin und Bakunin gekannt, aber nie etwas von ihnen gelesen. Aber wir sind sonntags regelmäßig zur Startbahn West an den Frankfurter Flughafen gefahren, um gegen den Staat zu revoltieren. Es bestand Helmpflicht wegen der Bullenknüppel, Zwille und festes Schuhwerk gehörten zur Grundausrüstung. Als dann 1987 zwei Polizisten an der Startbahn erschossen wurden, verdächtigte man I. der Tat. Er wurde von BKA und Interpol gejagt und musste sich bei Freunden im Ausland verstecken. Sein Fahndungsfoto war auf Seite 1 unserer Tageszeitung und er schaffte es sogar in die Sendung „XY … ungelöst“ im Mainzer ZDF. Ich habe ihn erst Jahre später wieder getroffen, sein Spanisch war inzwischen ausgezeichnet.
Währenddessen wurden die wirklichen Täter hinter Gitter gebracht und der Frankfurter Flughafen hatte längst die gewünschte zusätzliche Startbahn. I. machte in den neunziger Jahren in der „militanten Antifa“ weiter, weil es damals in Rheinhessen, vor allem in Mainz-Gonsenheim, zahlreiche Neonazis gegeben hat. Demonstrationen, das war die Erkenntnis der achtziger Jahre, bringen nichts und die Online-Petition war noch nicht erfunden. Auf dem Wege regelmäßiger Hausbesuche, handgreiflicher Auseinandersetzungen und dem gelegentlichen Niederbrennen von einschlägigen Versammlungsorten wurde meine Heimat allmählich nazifrei. I. und ich studierten Politikwissenschaft und lasen Marx, Adorno, Titanic usw. Ich habe dann über „Beschleunigung und Politik“ in Berlin promoviert, I. befasste sich in seiner Dissertation in Frankfurt mit Geschichte und Wirkung des militanten Antifaschismus in Deutschland (es soll demnächst auch unter Pseudonym mit dem Buchtitel „Antifa heißt Angriff“ einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert werden, ich habe es korrekturgelesen).
Heute lebt er mit Frau und Kind in Wiesbaden und macht „was mit Medien“, wie die meisten von uns. Kleine und große Filme für Arte oder 3Sat, aber auch für zahlungskräftige Konzerne wie Red Bull. Ich bin immer noch Anarchist, gehe keiner geregelten Arbeit nach und zahle keine Steuern. Soll ich Sie mal in Ihrer WG besuchen?
P.S.: Weniger schön ist die Geschichte eines V-Manns vom rheinland-pfälzischen Verfassungsschutz, der in jenen Jahren in unseren Kreisen sein Unwesen getrieben hat. Einfach hier weiterlesen: http://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Steinmetz
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen