Sonntag, 11. Mai 2014

Im Fernsehen scheint immer die Sonne

Es war eine große Gnade, morgens nicht aufstehen zu müssen. Unter warmen Decken verborgen lauschte er den Geräuschen der Straße und des Hauses: die Müllabfuhr, Autohupen oder das Klappern des alten Aufzugs im Hausflur. Er lugte aus seinem Kissenberg heraus, Licht drang durch den Spalt der Tür und zeichnete erste vage Konturen. Der Kleiderhaufen neben seinem Bett ein Vorgebirge, das in die schroffe Silhouette der Zeitschriftenstapel überging, in der Ferne lockte das majestätische Panorama seines Schreibtisches, wenn er nur die Tür öffnete. Er schloss die Augen und döste ein wenig weiter. Letztlich war die Faulheit die einzige Philosophie, die im Angesicht der Weltkatastrophe und der allgemeinen Beschleunigung des Lebens ihren praktischen Wert bewies. Einem unschuldig Schlafenden, einem bewusst Untätigen fiel die geringste Schuld zu. Untätig erinnerte ihn an untot, die untätigen Untoten, die untoten Untätigen – aber was waren dann die anderen: die Lebenden oder die Toten? Und gab es ein Leben nach dem Tod und wie würde das Reich der Toten wohl aussehen? Wie Hannover? Und würde es dort etwas Anständiges zu trinken geben?
Wenn er sich kurz nach dem Erwachen die erste Pfeife anzündete, gefüllt mit wundersamen Heilkräutern, die von mexikanischen Mönchen hinter dicken Klostermauern angebaut wurden, spürte er den Feuerstein seines Feuerzeugs stärker, seine Fingerspitzen waren viel empfindlicher. Abends waren die Hände dagegen abgestumpft. Es gab also eine Form der Untätigkeit, die ihn nicht abstumpfte, sondern sensibel machte, die die Sinne schärfte und die Aufmerksamkeit zu erhöhen vermochte. Aber warum machte er sich solche Gedanken? Was wollte er begreifen und wozu? Große philosophische Fragen: Wer hat den Käse zum Bahnhof gerollt? Da draußen war eine Welt, in der sich diejenigen, die gerade Lust auf Gewalt hatten oder glaubten, einen bestimmten Grund für Gewalt zu haben, mit den augenblicklich Friedfertigen die Waage hielten; und es war ein Wunder, das dieses Gleichgewicht stand hielt. Aber war die Welt darum schlecht? Vielleicht hat die ganze Entwicklung der Menschheit auch gar keine Richtung und wir deuten nur eine Menge von Wichtigkeiten in den aleatorisch mäandernden Ablauf hinein? Vielleicht ist das Leben einfach nur banal, was – zugegebenermaßen – schwer zu ertragen wäre? Immerzu gibt es gute und schlechte Taten, gute und schlechte Menschen, und ein Jahr folgt dem anderen. Vielleicht ist die Erde nur eine Kugel, die durchs Weltall rauscht und auf deren Oberfläche ein Schimmel wächst, der von einem Bakterienstamm aus lauter Wichtigtuern und Besserwissern bevölkert wird?
Er hätte loslaufen wollen, zur Haustür hinaus, durch Straßen, über Plätze, auf die wieder Straßen folgten, stundenlang, bis ans Ende der Stadt, auf ein weites Feld, das sind hinter den letzten Häusern auftat. Hier wollte er ein Weilchen ausruhen und auf die ferne Stadt schauen, selbst wenn ein solcher Blick dieser Stadt nichts abtrotzen konnte, nichts wirklich aufschloss. Aber der Sommer war vorbei und der Morgen schon kalt. Und so blieb er träumend im Bett liegen. Ewig hätte er so liegen können, aber die Aussicht auf ein Jägerschnitzel mit Pommes frites, einzunehmen im Gasthaus „Ambrosius“, lockte ihn mit imaginären Gerüchen und Geschmäcken. Jägerschnitzel ... – allein das Wort öffnete schon eine Tür in die Vergangenheit. In den siebziger Jahren stellte das auswärtige Essen von panierten Schweineschnitzeln den Höhepunkt gesellschaftlichen Lebens dar. Am öffentlich gegessenen Schnitzel hatte er jeden Sonntag von seinen Eltern die Tischmanieren beigebracht bekommen, die man später als erwachsener Schnitzelesser, vor allem in Gegenwart anderer, vorzugsweise in sogenannten Gasthäusern mit gutbürgerlicher Küche, beherrschen musste.
Der Schweineschnitzelesser löste entwicklungsgeschichtlich den Konsumenten von Schweinehaxen bzw. Eisbein ab. Später folgte auf das Schweineschnitzel in der Genealogie kulinarischer Rituale der Bundesrepublik das Rumpsteak. Damit korrespondiert die Evolution der Beilagen, vom Knödel und der Salzkartoffel ging es zu Pommes frites und Kroketten, die später vielfältig variiert wurden (z.B. „Country Potatoes“). Der obligatorische Salatteller retardierte und diffundierte über ein wenig Grünzeug am Tellerrand zum fakultativen Angebot der Speisekarte – zu Recht, wie er meinte. Wesentlich waren natürlich die unterschiedlichen Phänotypen des Schweineschnitzels. Die vornehmste, edelste Variante war das Jägerschnitzel, d.h. mit brauner Soße und Dosenchampignons. Es folgte das Zigeunerschnitzel, d.h. mit roter Soße und Dosenpaprika. Zu erwähnen sind noch andere Variationen: das Rahmschnitzel, das Schnitzel Wiener Art (ohne Soße und mit einem Zitronenachtel), das Schweizer Schnitzel (mit Käse) und natürlich das Cordon Bleu (Schweineschnitzel mit Schinken und Käse im Innern). In seiner Spätphase hatte das Essen von Schweineschnitzeln seinen dekadenten Höhepunkt bzw. den Wendepunkt in Richtung Niedergang erreicht. Viele Lokale boten sogenannte „Elefantenohren“ an, Riesenschnitzel also, welche die Gier nach überdimensionierten, flachgeklopften und panierten Fleischfetzen befriedigen sollten. Inzwischen ist das Schnitzel fast zum Paria der Speisekarte verkommen, andere Gerichte – vor allem „internationale Küche“ – sind längst beliebter. Es ist auf das Niveau der Würstchenbuden (hier wird das Schnitzel einfach in die Friteuse geworfen) und der Imbissständchen („Schnitzelbrötchen“) abgerutscht. Es ist im Laufe der Zeit einfach untergegangen, hat seinen Zauber verloren, wie so vieles.
Das Bett war ihm inzwischen, da der Herbst sich von seiner unangenehmen Seite zeigte, der liebste Ort geworden. Viele andere Möbel hätte er getrost entbehren können. Wozu besaß er drei Stühle? Und was hätte er an seinem überfüllten Schreibtisch arbeiten sollen? Selbst die Regalwand war überflüssig, Fernseher und Stereoanlage konnte er auf den Boden stellen, die Bücher an den Wänden stapeln oder gleich zum Altpapier werfen. Dazu all der Mist aus diesem merkwürdigen Zwischenreich des Eigentums: Man hat es zwar nicht weggeschmissen, aber man findet es auch nicht mehr; es ist hier irgendwo, doch mehr du weißt nicht. Nur die Kleidertruhe hätte er nicht missen wollen, dazu Kühlschrank und Waschmaschine in der Küche (obwohl sie ja strenggenommen keine Möbel waren, sondern nur ebenso sperrige Gegenstände). Wenn man es sich recht überlegt, ist doch jede Stunde, die man gefaulenzt hat, auf das Sinnvollste verwendet worden. All die Zeitschätze, die er dem Imperium der Vernunft vorenthalten und freudig verschwendet hatte. Keine Minute mochte er missen, die er auf dem Bett liegend oder aus dem Fenster starrend in den Augen anderer vergeudete. All die Traumfetzen der zahllosen Nickerchen, all die zufriedenen Grunzer der Behaglichkeit nach einem guten Essen, all das gedankenverlorene Dösen vor dem Fernseher, all die gemütlichen Zeiten der Müdigkeit und der Melancholie. Der süße Zauber vollkommener Untätigkeit ...
(Schlusskapitel von "Im Fernsehen scheint immer die Sonne", der letzten von fünf Erzählungen in „Die singende Fleischwurst“ von Rondo Delaforce)
Musik: Ultravox. “Reap the wild wind”. http://www.youtube.com/watch?v=xedDbfwGqMA

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