Seht den Trinker an der Theke:
Er braut nicht, er keltert nicht
Und der Herrgott macht ihn doch besoffen.
An einem düsteren Winterabend des Jahres 1988 saß K. in seinem Sessel und dachte über die Gestaltung der nächsten Stunden nach. Sein Fenster zeigte ihm einen glimmenden Horizont, unter dem sich schwarze Eisenbahnschienen endlos streckten. Es lockte das Gasthaus, ein Ort der Ausschweifungen und Vergnügungen, wo das Volk sich traf und wo Hitze und Lärm den Durst zur Gnade werden ließen. Es drohten andererseits jedoch unerwartete Gespräche, ungewohnte Musik und die ungeklärte Frage der Finanzierung. Nachdem er sich aus den Beständen im Kühlschrank einen oralen Motivationsimpuls verschafft hatte, nahm er die Wagenschlüssel vom Tisch und ging zu seinem Alfa Romeo.
Einige Zeit später blickte er aus dem Wagenfenster nachdenklich in das hell erleuchtete Etablissement am Bahnhof. Es war voller Menschen, fröhlicher Lärm drang zu ihm hinaus. Zu spät – das Geschehen hatte ihn bereits magisch in seinen Bann gezogen. Er stellte den Wagen ab und betrat das Gasthaus. Mächtig erschollen die Stimmen, ein Rauschen umfing ihn, die Worte der Einzelnen verloren sich im schwermütigen Chor der Verdammten. Die Luft war rauchgeschwängert, die Tische waren voller Gläser und Krüge, man zog K. an einen Tisch. Am anderen Ende saßen geheimnisvolle Kartenspieler und neben ihm ein Hesse-besessener blonder Nachwuchsalkoholiker namens B., der in ein Glas Weizenbier starrte. Nun spürte auch K. ein hartnäckiges Kratzen in der Kehle, dem er auch nach einem trockenen Schlucken widerstandslos nachgab. Bald hatte er einen Rotwein mit Cola, in diesen Kreisen auch einfach „Schoppen“ genannt, vor sich stehen, ein höchst bemerkenswertes Getränk, dessen beständiger Gebrauch in jene Sphären der Erleuchtung führte, denen man Beinamen wie „Schoppengesicht“ oder „Trinkmaschine“ verdankte.
B. begann, offensichtlich schon länger anwesend, mir von seinem aktuellen Erkenntnisstand zu berichten: “Die Dinge werden in jenem Augenblick geboren, in dem ich sie in meinen Händen halte.“ Der Satz erhielt seine komische Fallhöhe durch die erklärende Armbewegung von B., mit der er in einem eleganten parabolischen Schwung sein Bierglas umriss, das seinen gesamten Inhalt als gelbliche Flutwelle in K.s Richtung ergoss. K. sah die ganze Szene wie in Zeitlupe: sein entsetztes Zurückrutschen, sein gleichzeitiges Aufspringen und das Auseinanderreißen der Beine. Dazu lief AC/DC.
Jene Tage erhielten ihren Ereignisreichtum durch das permanente Auftreten von M., einem notorisch lustlosen Menschen aus einem weit entfernten Dorf. Auch an diesem Abend glänzte er durch sein plötzliches Erscheinen. Missmutig an der Nase kratzend setzte er sich an den Tisch und begann, nach Abtausch der üblichen Eingangsfloskeln, die noch zu klärende Frage einer eventuellen Getränkebestellung in aller Länge und Breite zu erörtern. Alsbald wurde eine dralle Studentin der Sozialpädagogik namens Susi hinzugezogen, die allerdings erst einmal ermahnende Worte zu B.s Desaster äußerte. M. konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und winkte kollegial zu B. hinüber.
M. begann seine Geschichte. Immer wieder von B.s grunzenden Einwürfen, den inhaltlichen Wert des Gesagten in philosophischer Hinsicht betreffend, unterbrochen und gestört, entspann er das Geflecht einer zarten Liebesgeschichte, in der er, so entnahm ich seinen Worten, eine bisher nicht unkomische, jedoch grundsätzlich tragische Rolle spielte. Er hatte die T. anlässlich eines mittwochabendlichen Volleyballtrainings in der Dorfturnhalle kennengelernt und vertiefte nun diese Bekanntschaft bei den anschließenden Umtrünken der Sportlerinnen im Gasthaus „Zur Pfalz“. Ihr Verhalten ihm gegenüber war durchaus aufgeschlossen, nahm aber nach einem für M. typischen Fauxpas merklich kühlere Züge an. M. war zu einem Training, das gewöhnlich gegen zwanzig Uhr begann, völlig betrunken erschienen, hatte Unverständliches geschrien, eine Weile mitgespielt und war dabei mehrmals kläglich auf dem Parkettboden gelandet. Danach war er ins Gasthaus „Zur Pfalz“ gewankt und lag bei Ankunft der Volleyballerinnen bereits halb schlafend über dem Tresen. X., der Dorfschwule, saß neben ihm auf einem Barhocker und redete unaufhörlich auf ihn ein. M. brummte gelegentlich und schien verstört, vor allem nachdem ihn X. auf das rechte Ohr geküsst hatte. T. saß am Tisch und beobachtete die Szene mit misstrauischen Blicken, später mit Gelächter. Am folgenden Mittwoch musste M. wegen diverser Wirtshaus- und Spielschulden zu Hause bleiben, doch „gestern“, wie M. drohend hervorhob, hatte er mit ihr ein längeres Gespräch vor der Umkleidekabine. Es ging vornehmlich um Belangloses, doch glaubte er einen verspielten, ja zärtlichen Unterton aus ihren Monologen über Mode und Musik herausgehört zu haben. Er hatte sich fast ein Herz gefasst und wollte sie gerade um einen gemeinsamen Abend bitten, da trat eine Mitspielerin dazwischen und zog die T. mit einigen Scherzworten, auch M. betreffend, in die Damenkabine. Nun war M. unschlüssig, was im Weiteren zu tun sei.
Bedächtig trank K. sein Glas aus und versuchte, M. durch Anbieten einer Zigarette innere Stärke und Selbstvertrauen zurückzugeben. Dieser nahm an, rauchte langsam und starrte kopfschüttelnd in den Aschenbecher. Bevor B. mit einem philosophischen Exkurs dazwischen fahren konnte, sagte K.: „Bedenket eines, werter Herr! Noch ist nichts verloren. Euer Minnefräulein, jenes holde Mägdelein aus S., liebt wohl das feine Spiel der Worte. Angelegentlich eines jener ominösen Mittwochabende solltet Ihr in der Runde mutig das Wort ergreifen und durch kluge Rede ihr Wohlwollen erlangen.“ M. schwieg und hob der Kellnerin mit einem vorwurfsvollen Blick sein leeres Glas entgegen. Wenig später saß er alleine vor einem Geldspielautomaten und war von den rotierenden Scheiben wie betäubt.
Am Ende des Abends standen K. und M. auf einem Turm hoch über der Stadt. Sie rauchten gemeinsam eine selbstgedrehte Zigarette mit unbekanntem Inhalt. „Was soll ich denn jetzt machen?“ fragte M. „Glaubst du, mir ginge es besser?“ antwortete K. Sie blickten hinunter und schätzten die Höhe des Turms sowie die voraussichtliche Fallgeschwindigkeit. Ein gleichzeitiges Aufseufzen, dann fuhren sie zurück in die Stadt. So ging es in jenen Tagen in den rheinhessischen Gasthäusern zu.
P.S.: In Erinnerung an die vielen schönen Abende im „Pony Express“, der Mutter aller Gasthäuser. Musik: „Good Times“ von Chic. http://www.youtube.com/watch?v=8g6bUe5MDRo
Schoppen?? Rotwein mit Cola =Korea! Der Name passt wenigstens zum Geschmack des Getränks....
AntwortenLöschenWo sagt man denn Korea? Kannte ich noch gar nicht. In meiner alten Stammkneipe Pony Express in Ingelheim habe ich einfach nur "Schobbe" gemurmelt - die Bedienungen kannten mich alle und brachten mir den Cola-Schoppen. Lustigerweise ist jene Susi zeitgleich mit mir nach Berlin gezogen und hat in der Morena-Bar in der Wiener Straße bedient, natürlich war ich auch dort Stammgast ...
LöschenJa, so seh ich das auch, wo Kneipengeschichten den Raum verlassen um überdimensional auf verschiedenen Ebenen auch das weitere Umfeld mit einbeziehen.
AntwortenLöschenSchön geschrieben "Matthias" Rote Colaschoppe auch genannt "OB" für Ochsenblut. Merci!!!!
Freut mich, dass es dir gefällt. Ochsenblut heißt es auch hier in Schweppenhausen. Auf den alten handschriftlichen Aufzeichnungen, die ich hier abgetippt habe, findet sich auch ein riesiger Cola-Schoppen-Fleck ;o)
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