Montag, 4. März 2024

Eine sentimentale Reise 3

 

Am dritten Tag machten wir nach dem Frühstück einen langen Spaziergang zum Fluss hinunter. Stefan hatte ein paar Flaschen Rotwein in einem Stoffbeutel dabei, die leise aneinander klirrten. Hier am Fluss war er aufgewachsen, hier stand sein Elternhaus. Sein Vater war schon lange tot, sein Bruder erst vor kurzem gestorben, seine Schwester lebte weit entfernt in Norddeutschland. Nur seine Mutter lebte noch, sie wohnte allein im Haus. Er besuchte sie jeden Sonntag zum Mittagessen.  

Wir setzten uns auf eine Bank und beobachteten die Enten und Schwäne. Die Party war vorbei, das spürten wir beide. Jetzt ging es um den Kern, um uns selbst, um die unvermeidliche Reise ins Herz der Finsternis, zu den Ruinen unserer verlorenen Hoffnungen und den Trümmern unserer unerfüllten Wünsche, um das ganze verdammte Leben, das uns zwischen den Fingern zerronnen war.

Stefan zählte die Stationen seiner Biographie auf. Den Anfang kannte ich noch. In der Schule sitzen geblieben, mit Realschulabschluss vom Gymnasium abgegangen. Sein Vater, ein Dachdecker, gab ihn zu einem Stahlhändler in die Lehre. Er schaffte die Lehre zum Großhandelskaufmann und arbeitete im Betrieb, bis er Anfang dreißig war. Dann wurde das Geschäft von einer größeren Firma aufgekauft und er wurde entlassen.

Es folgte eine Odyssee durch Baumärkte und Geschäfte, über Baustellen zu immer weiteren Baustellen, schließlich zu Call-Centern und Gebrauchtwagenhändlern. Inzwischen arbeitete er als Pförtner in der Nachbarstadt. Er hatte nie eine Freundin gehabt, das Thema Liebe gab es für ihn nicht. Es gehe immer nur um Macht und Geld, um Töten und getötet werden, Überleben oder Sterben, erklärte er mir.

Seine Freunde hatten entweder in jungen Jahren die Stadt verlassen, waren später gestorben oder verheiratet, was in seinen Augen das gleiche war. Mir wurde klar, dass seine einsamen Besuche in der Ferengi-Bar nur eine sentimentale Reminiszenz an seine Jugendzeit war – so wie mein Besuch in der alten Heimat.

Wir gingen zurück und aßen am Bahnhof einen Döner. Wir hatten genug geredet. Stefan brachte mich zu einer neuen Kneipe, die inzwischen zu seinen Stammlokalen gehörte. Das „Mordor“ unterschied sich von der Ferengi-Bar nur graduell, hatte aber ein Hinterzimmer mit Daddelautomaten. Stefan zog sich mit einem Weizenbier an einen Automaten zurück, ich blieb an der Bar, und hatte schon wieder schwer einen sitzen.

Dann kam mir die Erleuchtung. Ich zahlte, stand auf und ging zum Bahnhof. Ich setzte mich in den nächstbesten Zug nach Nirgendwo und schlief ein. Erst an der Endhaltestelle wachte ich wieder auf. Köln. Na gut. Ich kaufte eine Fahrkarte nach Berlin und war meiner Vergangenheit glücklich entronnen. Ich habe Stefan nie wieder gesehen. 

 

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