Dienstag, 31. Oktober 2023

Wie werden wir sterben?

 

Wenn Freund Hein zu Besuch kommt, wird es keine große Sache sein. Es wird in keiner Zeitung stehen, denn es wird weder der Klimawandel, ein Erdbeben oder ein Weltkrieg sein, dessen Opfer wir werden. Es ist ein unüberschaubares Minenfeld, das mit jedem Jahr dichter und gefährlicher wird, und in dem wir uns jeden Tag bewegen müssen. Da die Zeit nicht stehenbleibt, können wir es auch nicht.

Zu den anfänglichen Gefahren wie Verkehrsunfall, Krebstod oder Gewaltverbrechen gesellen sich im Alter, bei einigen auch schon früher, Herzinfarkt und Schlaganfall. Parkinson, Alzheimer, Demenz, Zombies und Vampire lauern am Wegesrand. Oder man siecht einfach in Zeitlupe dahin und sitzt am Ende mit einer Windel im Rollstuhl und wird mit Brei gefüttert. Der Kreis des Lebens hat sich geschlossen.

Es gibt den leichten Tod und das langsame grausame Sterben. Die einen sind noch geistig und körperlich fit, dann legen sie sich eines Abends in ihr Bett, schlafen ein und wachen nie wieder auf. Andere sind jahrelang bettlägerig und werden regelmäßig gewendet, damit sie nicht wundliegen. Einmal in der Woche zieht man sie an, setzt sie in einen Rollstuhl und fährt sie in den Garten des Altersheims, wo sie eine Stunde lang das Gebüsch anschauen dürfen, bevor man sie wieder ins Bett bringt. Ein ereignisloses Dahinvegetieren, ein endlos erscheinendes Warten auf das Ende. Oder man steht den ganzen Tag im Badezimmer vor dem Spiegel und unterhält sich mit seinem Spiegelbild, das man für seine Cousine hält. Habe ich selbst als Altenpfleger erlebt.

Ich habe mich 1976, im Alter von zehn Jahren, zum ersten Mal ernsthaft mit dem Tod befasst, als ich wegen einer Blinddarmentzündung zwei Wochen im Krankenhaus lag. Es waren entsetzlich heiße Hochsommertage und ich durfte nach der Operation tagelang nichts trinken. Mein Onkel und mein Urgroßvater sind an Blinddarmentzündung gestorben, mir hätte das auch passieren können. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Die Alten sterben, aber Kinder sind unsterblich. Ich wurde nachdenklich. Wegen meiner gebückten Haltung nannten mich die anderen Patienten auf den Fluren „der alte Mann“. Als ich wieder zuhause war, begann ich zu schreiben. Ab Januar 1977 führte ich ein Tagebuch, weil ich das Bedürfnis hatte, mein Leben festzuhalten.

Das zweite mal habe ich mich 1986, zehn Jahre später, mit dem Tod befasst, als ich meinen Zivildienst in einem Altersheim abgeleistet habe. Unsere Pflegestation war eher ein Hospiz, keiner hat sie je lebend verlassen. Ich betrat einige Male Zimmer, in denen eine Leiche lag, ich sah Menschen beim Sterben zu. Mal kam der Tod leicht, mal kämpfte eine arme Seele um jeden einzelnen Atemzug. Dazu habe ich bereits einen Text geschrieben: Kiezschreiber: Wenn der Tod kommt  

Weitere zehn Jahre später, 1996, starb der letzte Mensch aus der Generation meiner Großeltern. Seitdem mein Großvater mütterlicherseits 1943 im Krieg gefallen war, hatte meine Großmutter selbständig, ohne Haushaltshilfe oder Pflegerin, in einer kleinen Mietwohnung gelebt – fünfzig Jahre lang. Sie kam wegen einer Thrombose ins Krankenhaus und war zwei Wochen später tot. Mein Großvater väterlicherseits ging 1969 in Rente, nach fünfzig Jahren Maloche auf dem Bauernhof seines Vaters, als Grubenarbeiter und Maurer. Er hat es im Ruhestand geschafft, sich zweimal am Tag zu besaufen: einmal vormittags und einmal nachmittags. Seine Stammkneipe war nur fünfzig Meter entfernt. Macht zweihundert Meter am Tag. Den Rest der Zeit saß er in seinem Sessel. Nach einem Sturz hatte er einen Oberschenkelhalsbruch und starb kurz darauf im Krankenhaus. Das war 1987. Zwei leichte Tode.

Schwerer hatte es meine andere Großmutter. Sie starb in geistiger Umnachtung nach drei Jahren in der geschlossenen Abteilung eines Altersheims. Am Ende hat sie weder meinen Vater noch mich wiedererkannt. Wer weiß, ob sie am Ende überhaupt noch ihren eigenen Namen kannte? Es ist eine Lotterie, auf die wir keinen Einfluss haben. Während der Selbstoptimierer auf Fitness und Vitamine schwört, hat sich vielleicht schon ein pflaumengroßer Tumor hinter seinem linken Auge gebildet. Während ich diese Zeilen schreibe, entsteht womöglich gerade ein tödliches Blutgerinnsel in meiner Halsschlagader. Wer denkt, er sei der alleinige Herrscher über sein Schicksal, ist einem Irrglauben oder dem Größenwahn verfallen.

 

2 Kommentare:

  1. .....du bist einfach in der Lage meine Gedanken in Worte zu fassen....

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  2. Es kommt anders, und zweitens als Mensch denkt. Oder doch genauso, wer weiß das schon.

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