Donnerstag, 19. Oktober 2023

Der Riese

 

Ich hatte gerade mein Philosophiestudium abgeschlossen und musste feststellen, dass in unserer Stadt kein Philosoph benötigt wurde. Auf den Seiten diverser Jobbörsen im Internet fand ich keine passende Stelle, doch eines Nachmittages sah ich am schwarzen Brett meines Supermarkts folgende Anzeige: „Haushaltshilfe für leichte Tätigkeiten gesucht. 1200 Euro im Monat.“

Ich ging noch am selben Tag zur angegebenen Adresse und klingelte. Das Haus stammte aus der Gründerzeit und hatte zwei Stockwerke. Als ich eine Weile gewartet hatte, klingelte ich ein zweites Mal. Ich wollte gerade gehen, als die Tür endlich geöffnet wurde. Ich blickte auf eine menschliche Wand, anders kann man es nicht sagen. Vor mir stand ein Mann, der etwa drei Meter groß sein musste. Er beugte sein Haupt, um durch die Tür sehen zu können.

„Kommen Sie doch herein“, sagte er und trat zur Seite.

Ich schaute ihn fassungslos an. Er trug einen weiten Umhang mit einem blauroten Blümchenmuster, der einmal eine Gardine gewesen sein mochte. Seine Hände waren so groß wie Klodeckel und seine Füße steckten in Kindersärgen, die mit Lederriemen bespannt waren.

„Ich habe eine seltene Krankheit“, begann er. „Seit meiner Geburt wachse ich immer weiter. Inzwischen komme ich noch nicht mal durch die Haustür. Eines Tages werde ich einen ganzen Raum ausfüllen und muss durch das Fenster gefüttert werden.“

Er führte mich in sein Wohnzimmer, wo eine Reihe Matratzen auf dem Boden lag. Unter großen Mühen legte er sich hin.

„Ich brauche dringend Hilfe. Würden Sie für mich arbeiten?“

Ich nickte. Er deutete auf den Tisch, auf dem seine Brieftasche lag.

„Können Sie bitte für mich einkaufen gehen? Ich habe schrecklichen Hunger.“

So begann alles. Ich kochte ihm zwei Kilo Spaghetti und machte aus einem Kilo Hackfleisch und einer Flasche Ketchup eine leckere Soße. Ich füllte alles in eine große Schüssel und rieb ein halbes Kilo Käse darüber. Zum Nachtisch brachte ich ihm einen ganzen Pfirsichkuchen.

Wenn ich morgens zu ihm kam, hatte ich eine Tüte mit zehn Brötchen dabei, die ich mit Wurst und Schinken belegte. Dazu trank er drei Kannen Kaffee. Ich nähte ihm aus Zelten, die ich in einem Outdoorladen gekauft hatte, neue Umhänge und brachte seine Klamotten in die Wäscherei.

Wir freundeten uns an und er erzählte mir eines Abends bei einer Fünfzig-Zentimeter-Familienpizza vom Lieferdienst von seinem Traum, ein Gegenmittel zu finden, das ihn wieder schrumpfen ließe. Am liebsten wäre er so groß wie ein dreijähriges Kind. Dann trüge er kleine Hemden und kleine Schuhe. Er würde nur noch winzige Kinderportionen essen und den ganzen Tag durchs Haus rennen. Kleine Menschen könnten sich auch sehr gut verstecken, während Riesen überall auffallen würden.

Ich lebe inzwischen in seinem Haus und habe das ganze obere Stockwerk für mich, da er keine Treppen steigen kann.

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