Es war
in jenem magischen Sommer 1985, als wir uns kennenlernten. Es war Freundschaft
auf den ersten Blick. Wir passten perfekt zusammen: Wir interessierten uns
beide für Literatur und Philosophie, wir soffen beide wie die Löcher, rauchten
Kette, konnten Stunden am Flipper verbringen und hatten keinen Plan für unser
weiteres Leben.
Ich
hatte gerade Abitur gemacht und ein halbes Jahr Zeit, um zu machen, was mir
gefällt, bevor der Zivildienst beginnen sollte. Ich schrieb meinen ersten
Roman. „Drei Eimer Scheiße“. Inspiriert von den Strugatzki-Brüdern dachte ich
mir die Geschichte von außerirdischen Besuchern aus, die aufgrund unserer
Blödheit keinen Kontakt zur Menschheit aufnehmen wollten und bei ihrem Besuch
nur einen Riesenhaufen Scheiße hinterließen, den der Ich-Erzähler fand. Zum
Glück wollte kein Verlag dieses Elaborat je veröffentlichen. Ich fand drei
Tuben Ölfarbe (blau, rot und gelb) und hatte eine kurze Phase als Maler, bis
die Tuben leer waren. Geld für neue Farben hatte ich nicht. Ich zeichnete,
machte Collagen aus den Fotos, die ich in alten Zeitschriften fand, die sich in
meiner Messi-Bude stapelten. An den Wänden Bilder von James Dean, Borussia
Mönchengladbach, der brennenden Hindenburg und Kafka-Zitate. Dazu war ich Gralshüter
einer veritablen Pornosammlung, denn ich hatte ganze Jahrgänge von Playboy,
Penthouse und Lui, die ich an die vielen sexgeilen Jungfrauen verliehen habe,
die den ganzen Tag nicht die Finger von ihrem Schwanz lassen konnten. Als ich
noch zur Schule ging, habe ich regelmäßig in einer Buchhandlung Zeitschriften
und Bücher geklaut. Außerdem befriedigte ich meinen gigantischen Lesehunger in
der Schulbibliothek, der Stadtbibliothek und der Werksbibliothek von Boehringer
(via Vater). Ich schrieb für den Ingelheimer Lokalteil der Mainzer Allgemeinen
Zeitung belanglose Artikel über Vereinssitzungen und Kindergarteneröffnungen
und war immer noch mit dem Klapprad unterwegs, dass ich mit acht Jahren
geschenkt bekommen hatte.
Mein
neuer bester Freund hatte nach dem Realschulabschluss eine Lehre als
Großhandelskaufmann absolviert und arbeitete in einem Baumarkt. Er wohnte nicht
weit von mir entfernt. Wir trafen uns meistens bei ihm, gelegentlich auch bei
mir. Nebenbei hatte er einen Job als Filmvorführer im örtlichen Kino. In seinem
ständig zugequalmten Zimmer hatte er Poster von Bruce-Lee-Filmen an den Wänden.
Außerdem zog er die Kronkorken aller Biere, die er trank, auf Schnüre, die
überall vor den Postern baumelten. Niemand hat sie je erzählt. Im Gegensatz zu
mir hatte er ein Auto, einen Opel Kadett. Eines schönen nachmittags tranken wir
einen kompletten Kasten Bier und
beschlossen, in unsere Stammkneipe am Bahnhof zu fahren. Er überholte auf dem
Weg dorthin in wilder Fahrt mehrere Autos. An der Kreuzung vor dem Bahnhof
stieg der Mann im Audi hinter ihm aus. Er zog meinen Kumpel aus dem Wagen und
legte ihm Handschellen an. Es war ein Polizist auf dem Weg zu seiner
Dienststelle. 1,8 Promille. Führerscheinentzug für ein halbes Jahr. Ich
torkelte zur Kneipe weiter, an den Rest des Tages konnte ich mich nicht mehr
erinnern. Jetzt war er also auch Radfahrer. Einen Monat später, auf dem Weg
nach Hause, legte er sich mit seinem Rad direkt vor der Polizeidienststelle in
der Bahnhofsstraße auf die Schnauze. Die Polizisten kamen raus, nochmal eine
Blutprobe, nochmal exakt 1,8 Promille, sechs weitere Monate Führerscheinentzug.
Einmal haben wir auf einer Fahrt auf der Autobahn eine Wette abgeschlossen. Er
glaubte nicht, dass ich bei über 100 km/h als Beifahrer vom vierten in den
ersten Gang schalten könnte. Er trat auf die Kupplung, ich prügelte mit zwei
Händen den Schaltknüppel in den ersten Gang und der Wagen rollte auf dem Standstreifen
aus. Er war mir noch nicht mal böse.
Damals
trafen wir uns jede Woche mehrmals, aber parallel dazu schrieben wir uns lange
Briefe. Genau wie ich las und schrieb er einfach gerne. Die Briefe hatten
manchmal fünf oder sechs Seiten Länge, ich habe sie heute noch. Obwohl wir uns
gegenseitig besuchten, schickten wir uns die Briefe per Post. Wir sprachen auch
nicht über die Briefe und unsere Gespräche wurden auch nicht in den Briefen
thematisiert. Es war, als hätten wir zwei Freundschaften, eine Brieffreundschaft
und eine „normale“ Freundschaft. Aber über seine Schicksalsschläge haben wir
weder gesprochen noch geschrieben. Ich fand es heikel, das Thema anzuschneiden,
und er schwieg beharrlich. Sein Vater hatte zehn Jahre in der Nervenheilanstalt
in Alzey gesessen, Schizophrenie. Nach seiner Entlassung arbeitete er in der
Leergutannahme eines Supermarkts. Als er wieder fremde Stimmen in seinem Kopf hörte,
erhängte er sich im Keller ihres Hauses. Mein Freund hat ihn gefunden. Im
nächsten Jahr wurde sein Bruder schizophren, auch er beging Selbstmord. Diese
Familienkatastrophen erzählte er ganz nüchtern und sachlich, danach erwähnte er
sie nie mehr. Er hatte sicher sein Leben lang Angst, dasselbe Schicksal zu
erleiden.
Vor
einigen Jahren erkrankte er an Krebs und war sieben Monate in stationärer
Behandlung. Über einen gemeinsamen Freund ließ er mir ausrichten, dass er mich
gerne noch einmal sehen wolle. Nach überstandener Therapie trafen wir uns. Wir
haben ein paar Gläser Weinschorle getrunken, die alten Zeiten wieder aufleben
lassen und viel gelacht. Es war, als hätten wir uns erst gestern zum letzten
Mal gesehen. Er ist inzwischen im Ruhestand und lebt nach dem Tod seiner Mutter
allein in seinem Elternhaus. Er muss einen Rollator benutzen und hat als letzte
Verwandte eine Schwester, die mit ihrem Mann in der Nähe von Bingen wohnt.
Gelegentlich treffe ich Duffy, einen alten Weggefährten. Von ihm erfahre ich,
wie es den Helden der Nacht heute geht.
P.S.:
Eine Anekdote noch. Als er Zivildienst bei „Behinderten- und Senioren-Reisen“
(BSR) in Ingelheim machte, wurde ihr VW-Bully von Ganoven geklaut, die damit
einen Diamantenhändler in Idar-Oberstein überfielen, 1,5 Millionen Beute
machten und anschließend den Kleinbus wieder zurückbrachten. Das Fahrzeug wurde
natürlich von Zeugen gesehen. Am nächsten Tag hat das LKA Mainz die komplette
Firma hochgenommen und zum Verhör in Handschellen abgeführt. Ich konnte meinem
Kumpel für die Nacht ein Alibi geben. Es war Hexennacht und wir waren in
unserer Stammkneipe gewesen. Anschließend bin ich mit ihm nach Hause gegangen.
Aber er wurde wochenlang beschattet. Immer lustig, wenn zwei kurzhaarige
Schweiger, die wir noch nie gesehen hatten, am Nachbartisch sitzen.
P.P.S.:
Unser erstes Ingelheimer Rotweinfest im Herbst 1985 endete mit einer Schlägerei
mit zwei anderen Jungs. Die amerikanische MP, die damals gemeinsam mit der
deutschen Polizei für die Sicherheit bei diesem mehrtätigen Massenbesäufnis
sorgte, beendete den Kampf und wir gingen nach Hause. Ungeschlagene Krieger vom
Stamme der Suffnasen.
"... Ingelheim = Bronx …"
AntwortenLöschenIngelheim = Offenbach light :o)
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