Ich
kann mich nicht mehr erinnern, wer aus unserer Clique ihn eines Abends
mitgebracht hatte. Wir haben uns damals entweder im Hobo oder im Pony Express getroffen, den beiden einzigen Kneipen in der
Stadt, in der sich die Jugend allabendlich bei lauter Musik zum gemeinsamen
Rausch zusammenfand. Aber irgendwann gehörte er einfach dazu.
Er
stammte aus gutem Hause wie etwa die Hälfte von uns. Sein Vater verkörperte das
gediegene Bildungsbürgertum der alten Bundesrepublik und war Chefredakteur der
Lokalzeitung. Seine Mutter verbrachte den Tag im repräsentativen Anwesen am
Stadtrand mit Sarkasmus, Rotwein und Selbstmitleid. Wie viele Jugendliche
wollte er gegen seine spießigen Eltern rebellieren und weigerte sich, ans
Gymnasium zu gehen. Er machte nur den Realschulabschluss und begann eine Lehre
als Metzger.
Tagsüber zerhackte er Fleisch, abends besoff er sich in der Kneipe und spielte im schwarzen Jackett den Kleinstadtintellektuellen. Sein Nonkonformismus wirkte angestrengt und bisweilen verbissen. Wir studierten zu diesem Zeitpunkt schon, genossen aber den proletarischen Charme seiner selbstverliebten Ergüsse. Schließlich hatten wir noch zwei Leute vom örtlichen Baumarkt und von Woolworth am Tisch, die auch zu philosophischen und politischen Monologen ab 1,0 Promille aufwärts neigten. Es war eine gute Mischung, unterschiedliche Perspektiven und Meinungen, die lautstark, aber nie feindselig diskutiert wurden.
Sein
Kinderzimmer war überraschend bürgerlich. Regalmeterweise ungelesene
Weltliteratur (wie er mir eines Tages unter vier Augen gestand), die ihm sein
kulturbesessener Vater geschenkt hatte, an der Wand ein echtes Ölgemälde,
dessen Wert sämtliche Ersparnisse des Freundeskreises überstieg. Nach seiner
Lehre drohte der Wehrdienst. Also ging er nach West-Berlin und nahm, zum
Entsetzen seiner Eltern, Schauspielunterricht. Er wohnte in SO 36 und arbeitete
als Briefträger. Natürlich wurde er nie Schauspieler, auch ein kurzes
Intermezzo als Sänger einer Band verlief im Sand. Dann kam die Einheit und in
ihrem Gefolge das Kreiswehrersatzamt. Tschüssikowski, Kreuzberg, Servus,
Bayern. Er kam zu den Gebirgsjägern und unterschrieb gleich für zwei Jahre.
Keine
Ahnung, was aus ihm geworden ist. Wir haben ihn aus den Augen verloren. Wahrscheinlich
hat er eine Frau, zwei Kinder und ein Reihenhaus in der tiefsten Provinz. Oder
er verprasst sein üppiges Erbe in Florida.
Solche Poser, die ihr Selbstbewusstsein ausschließlich aus Papas Brieftasche bezogen haben, hatten wir doch damals alle im Freundeskreis. Schön, dass der Drückeberger wenigstens zum Bund musste. Ich kannte den Sohn eines Miethais, der gleich nach dem Abi in Papas Mietskaserne untergebracht wurde. # EBK (= Eigenbedarfskündigung, nicht Einbauküche)
AntwortenLöschenEin Leben mit Vitamin B. Sie nennen sich "Leistungsträger" :o)
LöschenDie Nonkonformisten von einst wählen heute SPD oder CDU, gehören zur Verbrennergang und wollen die Atomkraft zurück.
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