„Die Bauernleut werden sich gewanden wie die Städtischen, und die Städtischen wie die Narren.“ (Weissagung des Mühlhiasl)
Langsam, aber unerbittlich rollte der Wagen die Dorfstraße hinunter, hielt an der Hauptstraße kurz an und bog nach links ab. Ich sah dem Wagen hinterher. Meine Eltern hatten mich zu meinen Großeltern aufs Land gebracht. Eine Woche würde ich mit ihnen alleine sein. Ein tiefes Gefühl von Wehmut, Heimweh und Traurigkeit. Ich konnte ganz deutlich mein Herz spüren.
Meine Großmutter war blind und mein Großvater war stumm. Die Großmutter sprach unaufhörlich, aber nicht mit uns, sondern sie führte ein endloses Selbstgespräch, sodass mein Großvater und ich oft unbemerkt die Küche verließen, wo sie weiter sprach. Der Großvater verzog sich für Stunden in eine nahe gelegene Kneipe, ich saß im Wohnzimmer und las oder ich malte ein Bild.
Es gab nur Illustrierte zu lesen, keine Bücher. „Frau im Spiegel“, „Neue Post“ und „Tina“. Alte Ausgaben, die Nachbarn und Verwandte mitgebracht hatten, um sie der Großmutter vorzulesen. Es war wie im Wartezimmer eines Arztes, ich saß auf dem Sofa und las den ganzen Klatsch über Adlige und Prominente. Damals gab es sicher kein Kind auf der Welt, das die Adelshäuser Europas so gut kannte wie ich.
Manchmal saß ich aber auch nur regungslos da und genoss die Stille des leeren Raums. Ich schaute mich um, ließ den Blick wandern und noch heute kenne ich jeden Gegenstand aus dem Wohnzimmer meiner Großeltern. Der Schrank mit den wenigen Büchern, die in einer Schrift gedruckt waren, die ich nicht lesen konnte. Das Bild mit der Blumenvase, das mein Vater als junger Mann gemalt hatte. Daneben eingerahmt die Urkunde seiner Meisterprüfung.
Gelegentlich ging ich in den Hof hinunter und schoss einen Gummiball gegen das Garagentor. Freunde hatte ich keine. In all den Jahren habe ich in diesem Dorf niemanden kennengelernt. Wenn ich, was selten genug vorkam, auf die Straße hinausging, eine leere Seitengasse, die teilweise von kleinen Häusern, teilweise von Gemüsegärten gesäumt war, ging ich nie weiter als fünfzig Meter nach links oder rechts. Nie wäre ich so weit gegangen, dass ich das Haus nicht mehr gesehen hätte.
So vergingen die Jahre meiner Kindheit.
Genesis – Mama. https://www.youtube.com/watch?v=xeGhazPjhoA
IHR ZITAT DES TAGES:
AntwortenLöschenDankbarkeit ist das Gedächtnis des Herzens.
Jean-Baptiste Massillon
*seufz*