Freitag, 1. Dezember 2017

Die Macht der Autonomen

„Die Erkenntnis, dass das Ziel emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung, von Befreiung und Menschlichkeit verfehlt wird, wenn man dabei auf irgendwelche Formen der ‚Machteroberung‘ im Staatsapparat setzt, bleibt bestehen.“ (Joachim Hirsch: Faszination des Staates, in: „links“, März 1985)
Wer sich in den Herrschaftsapparat des Staates begibt, kommt darin um. Inhaltlich, nicht physisch. Die Teilhabe am System der Herrschaft verändert die Politiker - je stärker, desto länger sie Teil dieses Systems sind und desto tiefer sie in dieses System eindringen.
Das mussten alle linken Bewegungen in Deutschland erfahren. Schon im Kaiserreich gab es eine linke Partei, die das Parlament zur Tribüne des Klassenkampfs machen wollte und als Vertreter der Arbeiterklasse dann doch kleinlaut an eben jenem Ort, wo auch heute noch der Deutsche Bundestag seinen Sitz hat, den Kriegskrediten eines Feudalherren zustimmte, der offensichtlich einem imperialistischen Größenwahn verfallen war. 1918/19 stellte sich dieselbe SPD auf die Seite des Bürgertums und des Militärs und verriet die proletarische Revolution, die zum Sturz des Massenmörders Willem Zwo geführt hatte. 1932 ermöglichte sie aus parteitaktischen Erwägungen die Wahl des erklärten Demokratiefeinds Hindenburg zum Reichskanzler, der wiederum Adolf Hitler den Weg ebnete.
Und so ging es in der Bundesrepublik weiter. Die APO rieb sich beim „Marsch durch die Institutionen“ innerhalb des Apparats auf. Je höher ihre Vertreter in den Institutionen aufstiegen, desto geringer wurde ihr Interesse, diese Institutionen zu verändern. Wie lange bleibt man renitent, wenn man „dazu gehört“, wenn man üppige Abgeordnetendiäten oder ein Professorengehalt kassieren und allerlei Privilegien wie Fahrdienst oder Reisen erster Klassen genießen darf? Da ist der Schritt vom Volksvertreter zum Volksverräter nicht weit. Die größten Kritiker der Elche werden später selber welche. Früher wurden die Rädelsführer der Opposition erschossen, heute scheißt man sie mit Geld zu. So trug auch die APO-Generation, wie alle Generationen vor und nach ihr, - wenn auch ungewollt – zur Stärkung des politischen Systems bei, indem sie ihre gesamte Energie innerhalb des Apparats verbrauchte.
Als sich die sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre zur Partei der Grünen formierten und den Gang in die Parlamente wagten, gingen sie unter. Anfangs wollten sie noch ein wenig an den Spielregeln herumbasteln (Rotation der Abgeordneten, imperatives Mandat usw.), aber bald hatten sie sich an die formalisierten Abläufe des „Hohen Hauses“ mit präzisen Redezeiten und vorgedruckten Tagesordnungen gewöhnt. Bekanntlich geht es im Bundestag nicht um Meinungsbildung in offenen Diskussionen – das haben die Grünen irgendwann gelernt und damit erlosch zugleich ihr Versuch, eine Alternative zum Establishment der Altparteien zu sein.
„Die Präsenz der Grünen im Parlament wirkt nicht destabilisierend, bringt umgekehrt etliche dissidente Gruppen der Gesellschaft wieder heim ins Verfassungssystem. Wie weiland die Sozialdemokraten (…) betätigen sich die Grünen heute – obzwar ungewollt – als Stützen der sonst kritisierten Ordnung. (…) Die Utopie der ‚Gesellschaft der Freien und Gleichen‘ (Marx) kann nicht als Gesetzesvorlage (…) in den Bundestag eingebracht werden.“ (Johannes Agnoli: Zwanzig Jahre danach – Kommemorativabhandlung zur Transformation der Demokratie, in: Prokla 62, März 1986) Ergänzend muss man konstatieren, dass die Grünen auch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse stabilisiert haben, indem sie auf „umweltfreundliche“ Produkte und Herstellungsverfahren gepocht haben – sonst wären die Industriestaaten längst in ihrem Dreck erstickt.
Später ging es den Linken so und auch den Piraten. Es gilt die alte Regel: Wer tatsächlich Opposition betreiben will, der halte sich von den Institutionen des Staates fern. Wer den Sumpf austrocknen will, darf nicht selbst zum Frosch werden. Das hat in den letzten 150 Jahren keine einzige linke Partei in diesem Land begriffen. So blöd waren die Nazis nicht. Sie haben nicht nur bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Demokratie abgeschafft, sie hatten mit SA und SS auch eine eigene Polizei und ein eigenes Militär, mit deren Hilfe sie ihre Gegner in Konzentrationslager steckten oder gleich ermorden ließen. Sie haben sich an keine einzige Regel gehalten, sondern einfach die Verfassung ignoriert.
Von den Faschisten wollen wir natürlich nichts lernen. Wer war erfolgreich? Da fällt mir als erstes Beispiel die polnische Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc“ ein. Man begab sich nicht ins Getriebe der Macht und gründete eine Partei oder trat einer Partei bei, sondern entwickelte eine eigene autonome Organisation, die am Ende den Staat besiegt hat. Oder die Hausbesetzer in Berlin und anderswo, zumindest in den Anfängen. Die fragten nicht nach Eigentumsrecht und Mietverträgen, die wohnten einfach, wo sie wollten. Gandhis Aufrufe zum Boykott von Waren und Steuerzahlungen – glatter Rechtsbruch eines gelernten Juristen in den Augen der britischen Kolonialherren. Na und?
Wer sich geistig vom Staat unabhängig macht und sich nicht selbst als Teil des Staates begreift, kann seine Autonomie verwirklichen. Vielleicht geht man sogar den letzten Schritt und verabschiedet sich vom ehernen Gehäuse des Nationalstaats? Der Weg hinaus ist weit, das Labyrinth unserer wachsenden Ansprüche und angeblichen Bedürfnisse ist unüberschaubar geworden. Dieser Weg ist auch auf keiner Karte eingezeichnet, es gibt keinen Fahrplan für ein selbstbestimmtes Leben mit festen Haltepunkten und Terminen.
So wünscht es sich der deutsche Michel, aber so funktioniert es natürlich nicht. Freiheit + Planungssicherheit + Vollkaskomentalität kann es niemals geben. Die meisten Deutschen haben sich ohnehin längst bequem in ihrer Abhängigkeit, in dieser Mischung aus rein materiellem Wohlstand und ständiger Bevormundung, eingerichtet. Schon einige Wochen ohne Regierung empfinden sie als Krise – oder, wie die Boulevardpresse getitelt hat, als „Stunde Null“. Als ob es wirklich eine Zeit ohne Herrschaft wäre und als ob man vor herrschaftsfreien Zeiten Angst haben müsste.
„Aus der Erkenntnis, dass der Kapitalismus das Leben zerstört und sein Staat die Zerstörung institutionalisiert, kann der Schritt ins Emanzipatorische nicht unmittelbar vollzogen (…) werden. (…) Dazu gehört auch Aufklärung, als Teil der Maulwurfs-Arbeit. (…) Denn der alte Weg, von Plato über Fichte bis zu Lenin: man müsse die Massen zu ihrem Glück und zur Freiheit zwingen, ist nicht nur theoretisch brüchig und intellektuell eine Legitimationsideologie der Macht. Viel schlimmer: er lässt alles bei den alten Verhältnissen (mit ausgewechseltem politischen oder gesellschaftlichen Personal).“ (Agnoli, ebenda)

2 Kommentare:

  1. Auch Linke sind Menschen, das ist das ungelöste Problem.

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    1. Wenn sie am Ende genauso geldgierig, machtgeil und korrupt sind wie alle anderen, können wir uns ja auch den ganzen Quatsch mit Parlament, Politik usw. sparen.

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