Mittwoch, 2. März 2016

Das höllische System

„Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“. (Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung)
In den Carlsbad Caverns in New Mexico, ein System riesiger Tropfsteinhöhlen, das ich selbst als junger Mann besichtigt habe, ist ein gigantisches Elektronengehirn aus Röhren, Schaltern, Relais und einer Million Kilometer Kupferdraht. Von hier aus wird die gesamte Industrieproduktion der USA gesteuert, hier werden die Bedürfnisse der Bevölkerung vorausberechnet. Sämtliche Industrieanlagen des Landes sind vollautomatisiert, es genügen wenige Ingenieure, um die menschenleeren Hallen zu kontrollieren. Maschinen haben den Menschen nicht nur die Arbeit abgenommen, sie beherrschen auch die Polizei, die Justiz, die Medizin und das Personalwesen. Der US-Präsident hat nur noch repräsentative Zwecke.
Amerika ist eine Zwei-Klassen-Gesellschaft geworden, die in streng voneinander getrennten Vierteln wohnt. Die Manager und Ingenieure leben in märchenhaftem Reichtum, ihre Gated Communities werden von Wachmannschaften beschützt. Nur sie sind – sieht man vom Sicherheitspersonal ab – berechtigt, Waffen zu tragen und unbegrenzt alle Transportmittel zu benutzen. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist durch die Maschinen arbeitslos geworden und vertreibt sich die Zeit mit Fernsehen und einer Art Beschäftigungstherapie in Reparaturtrupps und der Armee, die nach dem letzten großen Krieg jedoch ohne Einsatzmöglichkeiten ist, da Maschinen die Beherrschung der Welt außerhalb der USA übernommen haben.
Die Maschinen teilen den Menschen ein Mindesteinkommen zu, das jedoch, bis auf ein Taschengeld von dreißig Dollar, sofort für die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Bekleidung, Möbeln und Haushaltsgeräten einbehalten wird. Nach einer festgelegten Dauer werden sämtliche Gebrauchsgüter durch neue Produkte ersetzt. Diesen Menschen fehlt es an Selbstachtung und Selbstwertgefühl, da sie nicht mehr gebraucht werden. Alkoholismus, Gewalt und Selbstmord sind an der Tagesordnung. Nur wenige von ihnen werden als Wach- und Dienstpersonal für die Manager und Ingenieure beschäftigt. Sie arbeiten als Koch, Kellner, Wachmann oder Friseur. Aber auch diese Berufe werden von Automatisierung bedroht – wie auch die Berufe der Akademiker.
Ärzte verabreichen nach den Diagnosen, die von Maschinen erstellt werden, nur noch mechanisch die notwendigen Medikamente. Rechtsanwälte werden durch Lügendetektoren und Großrechner ersetzt. Auch die Zahl der Manager und Ingenieure sinkt ständig, die Maschinen entscheiden über ihre Entlassung, wenn ihr Wissen in den automatisierten Fabriken nicht mehr benötigt wird. Sie verlieren ihre Privilegien und müssen das Viertel der Oberschicht für immer verlassen.
Über die Welt außerhalb der USA erfahren wir nicht viel. Es gibt keinen Kommunismus mehr, aber auch kein freies Unternehmertum. Über den ganzen Globus sind Stützpunkte der Amerikaner verteilt, Armut und Sklaverei sind das Schicksal der Nicht-Amerikaner. Im Vergleich dazu leben die US-Bürger sehr gut. Ihr Daseinszweck ist der Konsum, denn die Maschinen brauchen sie, weil sie der Grund für ihre Produktivität sind.
Klingt alles ein wenig nach 2016, oder?
1952 schreibt Kurt Vonnegut „Player Piano“ (deutscher Titel: „Das höllische System“). Diese Dystopie ist sein erster Roman. Leider wird er in Deutschland nicht mehr aufgelegt, ich habe mir ein vergilbtes Exemplar aus den sechziger Jahren über das Versandantiquariat „Kunsthaus Stuttgart“ besorgt. Diese Zukunftsvision einer automatisierten Welt steht anderen Dystopien wie „1984“ oder „Brave New World“ in nichts nach. Ich denke, die wirklichen Probleme liegen noch vor uns. Vonnegut hat sie bereits vor über sechzig Jahren beschrieben: Der Fortschritt frisst seine Kinder.
P.S.: Natürlich gibt es in dieser finsteren Vision auch die romantischen Maschinenstürmer. Was wäre eine gute Dystopie ohne Widerstand. Sie ahnen schon, wer am Ende gewinnt. Richtig.
P.P.S.: Ich wäre in diesem System übrigens ein „W-440: Schriftsteller, Romane, Fortgeschrittener.“ Aufgrund systemkritischer Texte, deren Veröffentlichung natürlich verboten ist, verliert man aber ganz schnell seine Nummer – und damit auch sein Einkommen. Keine Nummer, kein Geld.
P.P.P.S.: Wie perfide das US-System schon vor über fünfzig Jahren war, zeigt dieser Text über die Operation Northwoods: http://www.heise.de/tp/artikel/15/15933/1.html
OutKast - Ms. Jackson. https://www.youtube.com/watch?v=MYxAiK6VnXw

4 Kommentare:

  1. Mir kommt es immer mehr so vor, als ob die Erfinder, Erschaffer, Unterstützer, Profiteure des Systems auch nur Sklaven desselben sind.
    Getrieben durch eine sich selbst auferlegte Aufgabe.
    Es muss so und nur so laufen, alternativen gibt es nicht.
    Oder werden als obszön, unchristlich, unmoralisch, als was auch immer abgelehnt.
    Was man auch sehen muss, die Leute an der Spitze sind auch nur doof, oft erschreckend dumm. Sie begreifen die Situation einfach nicht. Es fehlt an allem.
    Es geht abwärts.

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    1. Es gibt eine immanente Systemlogik, die kein Mensch mehr stoppen kann. Und deswegen wird KI, befreit von persönlichem Ehrgeiz und von Gefühlen, eine Maschine, die unparteiisch und ehrlich ist (was kein Mensch jemals sein wird), die perfekte Führung darstellen. Sie wird nur unser bestes wollen - und das wird gruselig.

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  2. Eine Maschine, in dem Fall ein Computer, wird nie unparteiisch oder gar ehrlich sein, da Sie von Menschen gebaut und programmiert wird.
    Sie wird immer fehlerhaft sein, ergo auch nicht die perfekte Führung darstellen.
    Aber es wird einem wahrscheinlich so verkauft werden.

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    1. Natürlich wird es Menschen geben, die diese Maschine manipulieren werden. So wie es menschliche Profiteure geben wird. Wichtig ist, dass die Leute glauben, das es eine neutrale Herrschaft von Recht und Gesetz geben wird. Die Filme "Zardoz" und "Flucht ins 23. Jahrhundert" prophezeien eine ähnliche Zukunft wie Vonnegut.

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