Hamburg Hauptbahnhof. Ich sitze
auf einer Bank am Bahnsteig und warte auf meinen Zug. Eine Frau setzt sich
neben mich und fragt, ob der ICE pünktlich losfahren würde, da gerade
überraschend ein Zug aus Wien auf unserem Gleis abgefertigt wird, der gar nicht
angekündigt war. Ich kann sie beruhigen. Endhaltestellte unseres ICE ist Chur.
Für Züge, die verspätet in der Schweiz ankommen, muss die Deutsche Bahn Geld
bezahlen. Also wird man uns rechtzeitig an unser Ziel bringen. Wir plaudern noch ein
paar Minuten, dann kommt ihre überraschende Frage: „Fahren wir zusammen?“
Verdutzt stimme ich zu, schon gibt sie mir die Hand und stellt sich vor: „Ich
bin die Nora“.
Wir steigen ein. Der Zug ist
vollbesetzt und wir haben beide keine Reservierung. Sie fährt offenbar nicht oft
mit der Bahn. Ich erkläre ihr die Displays mit den Reservierungen, die an den
Sitzen angebracht sind. Sie möchte nach Karlsruhe, um einen Freund zu besuchen,
ich nach Frankfurt, wo ich in Richtung Bingen umsteigen werde. Am Ende des
Zuges werden wir zwei Plätze finden, sage ich ihr. Und tatsächlich: Im
allerletzten Wagen finden wir zwei Schwerbehinderten-Plätze und können uns
setzen.
Sie fragt mich nach meinem Beruf
und ich schildere ihr den Glamour und die Aufregung eines Hobby-Autors im
Hunsrück. Sie hat früher auf St. Pauli „alles Mögliche" gemacht. Später wird mir
angesichts ihres Fachjargons alles klar. Freier, die auf Prostituierte
onanieren – das nennt man Lehrgeld zahlen. Sie ist Mitte vierzig und seit
zwei Jahren mit einem griechischen IT-Angestellten verheiratet. Sie macht jetzt
„Kunst“, auf ihrem Handy zeigt sie mir Bilder von den Kerzenhaltern und
Schlüsselanhängern aus Kunstharz, die sie in ihrem Online-Shop verkauft. Ich
frage erst gar nicht nach den Umsätzen.
Wir beschließen schon zu Beginn,
die Masken abzulegen. Wir sind geimpft und wollen ja auch mal das Gesicht des
Gesprächspartners sehen. Immerhin dauert es von Hamburg bis Göttingen, bis die
junge Frau, die auf der anderen Seite des Ganges (Indien-Joke!) die ganze Zeit
neben uns gesessen hat – Typ: woke Hipster-Trulla – und bisher nichts gesagt
hat, plötzlich die Maskenpflicht anmahnt. Wir packen natürlich gleich den
Lappen vor die Luke und Nora beginnt einen längeren Monolog über das
Denunziantentum in Deutschland.
Sie knuddelt mich, wir verstehen
uns, die Zeit vergeht wie im Flug. Von jeder Dose Wodka-Red Bull möchte sie mir
einen Schluck abgeben, aber ich halte mich zurück. In Schweppenhausen steht
schon der Wein kalt. Sie schenkt mir sogar eine neue FFP2-Maske, da meine alte
Gesichtshülle (Kauf 7/2020) schon einen deutlichen used-look hat. In Frankfurt
heißt es Abschied nehmen.
P.S.: Im ICE auf der Hinfahrt
von Frankfurt nach Berlin habe ich mich mit einer netten Lehrerin aus dem
Ahrtal, dem Katastrophengebiet in Rheinland-Pfalz, unterhalten. Man lernt im
Zug immer wieder interessante Leute kennen.
P.P.S.: Beide Frauen haben
übrigens bei der Bundestagswahl die Tierschutzpartei gewählt – genau wie meine
Friseurin. Ein neuer Trend?
Electric Light Orchestra -
Last Train to London (Official Video) - YouTube
Warum hab ich das jetzt gelesen, warum gefiel es mir sogar sehr gut?
AntwortenLöschenVielleicht weil das Menschliche heute ein seltenes Gut geworden ist?
Und wir sind übrigens selber Tiere (;
Hier der (Indien-Joke!)
AntwortenLöschenSchild in einer indischen Kneipe: "Toiletten ...
... am Ende des Ganges"
Wenn man/Frau eine Reise tut, kann er/sie etwas erleben...schöne Geschichte, erdacht oder erlebt 🙄😉🤗
AntwortenLöschenEs menschelt... 💞 DANKE 🍷🍷... 😚
Tatsächlich so erlebt, nur den Namen habe ich geändert.
LöschenIch steh jetzt sofort auf und fahre Zug.
AntwortenLöschenVierer-Tisch oder Abteil sind immer gut für ein Gespräch. Vor ein paar Jahren kam ich mal mit einem 17-jährigen Mädchen ins Gespräch, das mit seinen Eltern auf dem Weg nach Berlin war. In der Charité sollte ihr ein Hirntumor entfernt werden. Da merkt man erst mal, wie sorgenfrei man lebt.
LöschenELO - für diese musikalischen Zwiebeltürmchen hab ich mich auch mal begeistern können. Aber das gebe ich nicht gern zu.
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