Freitag, 26. Januar 2018

Eine Landkarte der Niederlagen

„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ (Thomas Brasch)
Wenn ich eine Landkarte meiner Niederlagen machen müsste, fallen mir eine Menge Orte ein. Natürlich ist jedes Haus, in dem man gewohnt hat, jeder Arbeitsplatz, jede Schule ein Ort, an dem Niederlagen erlitten und durchstanden wurden.
Meine früheste Erinnerung ist der Kindergarten in Frei-Weinheim, einem Ortsteil von Ingelheim, meiner „Heimatstadt“, mit der mich heute kaum noch etwas verbindet, obwohl ich ganz in der Nähe wohne. Ingelheim ist nur noch ein Erinnerungsort, kein Teil meines Lebens. Anfangs musste man mich mit Gewalt in den Kindergarten zerren. Ich schrie und heulte, ich wollte nicht dort bleiben, sondern in Ruhe in meinem Kinderzimmer allein sein.
Praktisch hat sich bis heute nichts an meiner Einstellung geändert. Obwohl ich ein riesiges Haus mit 480 Quadratmetern Bruttogeschossfläche alleine bewohne, verbringe ich die meiste Zeit in meinem alten Kinderzimmer und dort wiederum die meiste Zeit im Bett. Wie in meiner Kindheit, wo ich in den Ferien auch ungern das Bett verlassen habe und den Tag im Schlafanzug verbrachte. Ich hätte auch eine Pflanze werden können.
Zurück zum Kindergarten. Auf dem Weg dorthin fuhren wir die Rheinstraße in Richtung Fluss und bogen dann in die Gebrüder-Grimm-Straße ein. Auf der Ecke stand und steht noch heute ein Haus, das aus hellgelben Bruchsteinen gebaut ist. Ein für Rheinhessen typischer Bau, Flonheimer Sandstein. Wenn wir um diese Ecke bogen, wusste ich, dass alles zu spät war. Noch heute flackert das Nervengeflecht in meiner Bauchdecke sehr heftig, wenn ich ein Gebäude sehe, das aus diesem Sandstein gebaut wurde.
Im Kindergarten flog ich regelmäßig aus der Gruppe und musste endlos allein auf dem Gang stehen und über meine „Taten“ nachdenken. Dort gab es ein großes Fenster, aus dem ich auf ein Stück Rasen blickte, das durch eine hohe Steinmauer begrenzt war. Als kleines Kind war ich sicher, dass diese Mauer das Ende der Welt war. Dahinter konnte nichts mehr kommen. Ich stand schweigend am Fenster, bis ich wieder in den Raum mit den anderen Kindern durfte oder meine Mutter mich abholte.
Im Ingelheimer Freibad an der Straße „Im Blumengarten“ wäre ich fast ertrunken, als mich ein anderes Kind ins Becken gestoßen hat. Ich hatte einige Monate eine Wasserphobie und bekam schon Schreikrämpfe, wenn nur ein Wasserhahn aufgedreht wurde. Als ich Jahre später schwimmen gelernt hatte, ging ich regelmäßig dorthin. Die hellblauen Kacheln des Schwimmbeckens, das verführerische und gefährliche Glitzern des Wassers im Sonnenlicht.
Dann die kleinen Niederlagen in der Umgebung unserer Wohnung, Untere Muhl 1. Das Rosengebüsch in der Waldstraße, in das ich als Fahrradanfänger volle Kanne hineingebrettert bin. Mühsam und völlig zerkratzt, aus tausend winzigen Wunden blutend, kämpfte ich mich wieder hervor. Die Brache an der Theodor-Fliedner-Straße, auf der mich ein älterer Junge übel verdroschen hat. Ich erinnere mich an die Menschen, die teilnahmslos vorübergingen.
So geht es weiter durchs Leben. Der Platz vor dem Gymnasium, auf dem meine erste Freundin mit mir Schluss gemacht hat. Der Fußballplatz in Schweppenhausen, Ort zahlloser, teils zweistelliger Demütigungen in der untersten Spielklasse. Die Bundesallee in Berlin, wo ich mein letztes Auto 1994 zu Schrott gefahren habe, als ich die „Zitty“ ausfuhr. Ich fuhr von Süden auf den Friedrich-Wilhelm-Platz und wäre fast in der Kirche eingeschlagen. Der Lamesa County Jail in Texas, wo ich eine Nacht mit Connie verbracht habe. Der letzte Ort ist die Klinik in der Landhausstraße in Wilmersdorf.
Wenn ich diese Orte auf eine Landkarte eintragen würde, hätte ich einen Atlas der Niederlagen. Umgekehrt gibt es aber auch eine Landkarte des Glücks. Das Haus in Oppenheim, in dem ich mich bei einem Abendessen mit Freunden in eine Frau verliebt habe, die fast ein Jahrzehnt Teil meines Lebens war. Die Regensburger Straße zwischen Bundesallee und Grainauer Straße, als bei einem Sturm ein schweres Bauteil direkt hinter mir auf den Bürgersteig krachte. An diesem Tag habe ich gefeiert. Das Haus in der Elßholzstraße, ebenfalls in Berlin, in dem ich jahrelang ein kleines Kind bespaßt habe. Endlich wieder Lego, Buntstifte und Höhlen bauen! Auf diese Karte kann ich auch eine Menge Fähnchen stecken.
GARY GLITTER ROCK & ROLL PART 1 & 2. https://www.youtube.com/watch?v=8OJ01psE6wc

10 Kommentare:

  1. Gerade das ist es ja, das Leben, wenn es schön und glücklich ist ein Spiel!
    Natürlich kann man auch alles mögliche andere aus ihm machen,
    eine Pflicht oder einen Krieg oder ein Gefängnis, aber es wird dadurch nicht hübscher.
    - Hermann Hesse, Die Morgenlandfahrt

    Ich habe mein Leben gehabt, wie es mir paßte,
    und es hat mir nicht an Freiheit und an Schönem gefehlt,
    aber ich bin doch immer allein geblieben.
    - Hermann Hesse, Das Ende

    *tja*

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  2. Ach was, Niederlagen. Ich würde es nicht so negativ sehen.
    Ich hadere eher mit verpassten Gelegenheiten.
    Hätte man doch nur vor 2 Jahren 1000 € in Bitcoins investiert.
    Z.B.
    Nur lumpige 1000€.
    Man wäre Millionär, jetzt.
    Und die ganzen Partys, zu denen man nicht hin ist.
    Und am nächsten Tag muss man sich erzählen lassen, wie toll es doch war.
    Und das kleine rothaarige Mädchen....
    Ach was soll`s.

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    1. Diesen Gedanken hatte ich auch oft. Vor allem, weil ich die Sache mit den Bitcoins seit 2012 verfolge ... ich hätte viele Millionen. Aber was würde ich mit dem Geld machen? Neulich habe ich eine Geschichte in diesem Blog veröffentlicht, in der ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe. Fazit: Ich brauche gar nicht viel und ich hätte mit meinen großzügigen Geldgeschenken das Leben meiner Familie und meiner Freunde vielleicht völlig aus der Bahn gebracht.

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  3. ".. ich wollte nicht dort bleiben, sondern in Ruhe in meinem Kinderzimmer allein sein."

    Früh übt sich, was am Schreibtisch endet.

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  4. Malte am ersten Tag einen großen blauen Bären und ging nie wieder hin. Lieber Schlafanzug, Frotteé.

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  5. Malte am ersten Tag einen großen blauen Bären und ging nie wieder hin. Lieber Schlafanzug, Frotteé.

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  6. Mein Scheitern bei den diversen Anschlägen auf die Welt fing schon viel früher an.
    Kaum wollte ich nicht raus da, wo es schön weich und warm war,...schwupps, war ich zur Welt gebracht.
    Kaum wollte ich mich selbst verwirklichen, ... schon wurde ich auf mir übergeordnete Rauhbeine gestoßen, die mich jahrelang zu lernen zwangen, was ich in meinem späteren Leben gar niemals nicht brauchte.
    Kaum wollte ich die ganz unnötigen Zwänge in den Sachen wegmachen helfen, ... und schon interpretierten mir noch härtere Räudel meine Unterwerfung darunter als Chance in einem Bewährungsraum vor...

    Ich fürchte, das geht so weiter.

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  7. Wie viele der Punkte der Niederlagenlandkarte und Glückslandkarte überlappen?

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    1. Manche Orte überlappen sich. Erster Sex und erste Ohrfeige: Mein Kinderzimmer in Ingelheim. Dort, wo man lange war, gibt es Überschneidungen. Anderswo wird es bunt ...

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