Sonntag, 22. März 2015

Mono no aware

Ronny Kowalski ging vorschriftsmäßig vor, so hatte er es gelernt. Die Siedlung bestand aus vier Häusern mit jeweils sechs Wohnungen. Also klingelte er an vierundzwanzig Türen. Niemand öffnete, wie geplant. In jedem Haus ging er, nachdem er überall geklingelt hatte, in den Keller, stellte die Heizung ab, drehte die Hauptsicherung heraus und den Hauptwasserhahn zu.
Im dritten Haus hatte er einen Hund gefunden, einen schwarz-weiß gefleckten Mischling, der vor einer Haustür gesessen und gewinselt hatte, als Ronny gekommen war.
„Wer bist du denn?“ hatte Ronny ihn gefragt, aber der Hund hatte ihn nur mit großen Augen angesehen und weiter gewinselt.
Also hatte Ronny ihn mitgenommen und nun saß er in dem kleinen Häuschen, das Ronny schon seit fünf Jahren bewohnte. Er stellte ihm eine Schüssel mit Wasser hin, die der Hund gierig leer schlabberte. Dann öffnete er eine Büchse Gulasch, schüttete den Inhalt in eine zweite Schüssel und stellte sie auf den Boden. Der Hund schnupperte neugierig am Gulasch und fing an zu fressen.
Ronny nickte zufrieden und machte sich ein Wurstbrot. Er hatte Vorräte für ein ganzes Jahr. Konserven mit Brot, Wurst, Suppe, Corned Beef und Fisch. Dazu Nudeln, Reis und Wasser ohne Ende. Während er aß, sah er durch sein Küchenfenster zum Kraftwerk hinüber. Eine schwarze Silhouette in der Dämmerung, kein Licht brannte. Es war ebenso verlassen wie die Siedlung.
Am nächsten Morgen kam ein olivgrüner Lastwagen in die Siedlung und hupte. Ronny ging vor die Tür, den Hund ließ er vorsichtshalber im Haus.
Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster und rief: „Sie sind der Katastrophenschutzbeauftragte?“
Ronny ging zum Laster hinüber und sagte: „Ja, ich bin Ronny Kowalski, der Katastrophenschutzbeauftragte.“
„Ist die Siedlung geräumt?“
„Ja, die Siedlung ist geräumt. Alles vorschriftsmäßig.“
Der Fahrer nahm einen kleinen Computer aus dem Handschuhfach und tippte etwas ein. „Kowalski?“ fragte er, ohne aufzusehen. „Ist das ein polnischer Name?“
„Nein, ein deutscher.“
Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Ronny: „Alles in Ordnung?“
„Ja“, antwortete der Fahrer. „Die ganze Gegend ist evakuiert. Sie halten hier die Stellung, bis Sie weitere Anweisungen bekommen. Verstanden?“
„Verstanden“, sagte Ronny.
„Brauchen Sie noch irgendwas?“
„Nein.“
„Gut. Und halten Sie sich vom Kraftwerk fern. Kontrollieren Sie regelmäßig die Siedlung. Wenn hier Plünderer auftauchen, melden Sie es der Zentrale.“
„Wird gemacht“, sagte Ronny.
Dann fuhr der Lastwagen wieder davon.
Ronny ließ den Hund vor die Tür und begann seinen Rundgang. Der Hund folgte ihm.
„Du hast ja noch gar keinen Namen“, sagte Ronny, und der Hund wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.
P.S.: Die japanische Redewendung “Mono no aware” bezeichnet das traurige Gefühl, das wir manchmal angesichts der Vergänglichkeit der Dinge haben. Es wird auch mit „Die Traurigkeit, Mensch zu sein“ übersetzt.
Paul Kalkbrenner - Sky and Sand. https://www.youtube.com/watch?v=8ybFb_wKlvQ

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