Freitag, 27. März 2015

Epiphanien, Teil 3

„In Berlin, mitten im Strudel und Getümmel und in all der Unruhe aufgeregten Weltstadtlebens, in angestrengter Geschäftigkeit und Tätigkeit, werde ich meine Ruhe finden.“ (Robert Walser)
Kluge Menschen sind nicht immer ernst. Ernste Menschen sind nicht immer klug.
Eine Freundin erzählt nach einer Israelreise von der dortigen Apartheid. Im Westjordanland gibt es zwei Straßensysteme, eines für die Juden und eines für die Araber. Oft werden jüdische Straßen mitten durch arabische Felder gebaut, die Straße darf von den Arabern aber nicht überquert werden. Die Juden schwelgen in Wasserreichtum und waschen ihre teuren Autos, den Arabern verdorren die Felder. Eine andere Freundin erzählt mir einen Tag später von einem Pressetermin mit Frau Barenboim in deren Villa in Dahlem. Sie erfährt zum ersten Mal von einem Kulturboykott Israels durch Künstler und Wissenschaftler aus alle Welt, ähnlich dem Boykott Südafrikas bis 1994.
Ich träume, dass ich als Berater einer Bank arbeite. Die Bank ist in einem Hochhaus und neben dem Hochhaus ist ein turmhohes Aquarium, in dem ein Riesenkrake schwimmt. Je mehr Geld die Bank verdient, umso größer wird der Krake. Ich bekomme für meine Arbeit eine Flasche Sekt und ein Kinderüberraschungsei am Tag. Ich rate dem Bankchef, der neu im Geschäft ist, immer nett zu den Kunden zu sein. Zumindest am Anfang, später kann man sie immer noch übers Ohr hauen. Außerdem soll er sich mal bei anderen Banken umhören, was die so den ganzen Tag machen. Ich erkläre ihm auch, wie man Berater bezahlt und was die so verlangen. Ich bin mir nicht sicher, ob es sinnvoll ist, solche Träume am nächsten Morgen aufzuschreiben.
Ranglisten und Hierarchien aller Art scheinen eine hohe Bedeutung für die Menschen zu haben. Welchen Finger Ihrer linken Hand mögen Sie am meisten, welchen am wenigsten? Machen Sie eine Rangliste!
„Wir sind immer in der Scheiße, nur die Tiefe ändert sich.“ (Spruch eines deutschen Gammlers, zitiert nach Margret Kosel: Gammler Beatniks Provos – die schleichende Revolution, Frankfurt/Main 1967, S. 84). Die jungen Aussteiger trafen sich damals an der Gedächtniskirche und der Hauptwache, Berlin und Frankfurt waren Zentren der Bewegung, die man später 68er nannte. Langhaarige Männer wurden in manchen Gasthäusern und Geschäften nicht bedient, Schlips und Rock waren obligatorischer Dresscode in Uni-Vorlesungen – die von Professoren in Talaren gehalten wurden.
Es ist kurz nach Sonnenaufgang, die Frauen schlafen noch, als zwei Männer in Unterhosen mit dem ersten Kaffee des Tages (pbc, wie es im Internet-Deutsch heißt) in der Küche einer Doppelhaushälfte ein gutes Gespräch über den täglichen Kampf ums Dasein mit Kunden und Kollegen führen, bei dem Begriffe wie Coopetition, Listbroking und Buzz-Marketing fallen (pbc heißt übrigens pre-breakfast-cup).
Mit dem Presse-Dauerausweis eines Freundes erschleiche ich mir den Zugang zur ITB. Wie einträchtig die Welt doch in den Berliner Messehallen auf den Touristen wirkt: Israels Stand friedlich umgeben von seinen arabischen Nachbarn, selbst die Ukraine, der Irak und das Kosovo locken die Reisenden mit eigenen Ständen und Prospektmaterial. Am prunkvollsten werben die Arabischen Emirate und Ägypten, dagegen wirken traditionelle Destinationen wie Spanien und Italien langweilig und ideenlos. Ich nehme nur am Franken-Stand einige Prospekte mit, mein einziges Ziel 2015.
Berlin-Impressionen vom 18. März: Eine wunderbare Ruinenlandschaft in Weißensee – es wird nicht nur gebaut. Diverse Ü50-Damen, eine sogar mit Ehemann, die am offenen Fenster lehnen und sich das Schauspiel des Straßenverkehrs anschauen. Die jungen afrikanischen Flüchtlinge in der U-Bahn-Station, die aufgeregt lachend den Inhalt eines Verkaufsautomaten miteinander besprechen, ohne etwas zu kaufen. Zwei junge Deutsche mit einem gerade gestohlenen Computer und anderem Equipment in einer Plastiktüte. Der Blonde mit der gebrochenen Nase fährt ihn hoch. „Linux – egal, den mach ich sowieso platt.“ Dann besprechen sie, wieviel Geld man für das Notebook bekommt. Mir gegenüber auf der Sitzbank in der U 9, nachts um ein Uhr. Leider muss ich aussteigen.
Der Blutwurstfabrikant Meier ging nach seiner Hodenamputation nie wieder ins Schwimmbad.
Ich schimpfe ja gerne auf den Journalismus, aber er hat auch seine guten Seiten. Mit Pressekontakt 1 bin ich einen Abend lang in der Flop-Bar im Wedding, ohne für meine Cocktails bezahlen zu müssen. Mit Pressekontakt 2 bin ich im Comet Club in Kreuzberg auf einem Konzert, ohne für die Eintrittskarte oder die Getränke zu bezahlen. In dem Laden war ich zuletzt vor sieben Jahren, als ein Musiker aus meinem Freundeskreis den Club komplett für seinen vierzigsten Geburtstag gemietet hatte.
Ein winziges italienisches Lokal in Wilmersdorf, bei dem ich mich seit Jahren frage, wie es überlebt, da ich an den wenigen Tischen über Jahre hinweg fast nie einen Gast gesehen habe. Jetzt bekomme ich die Lösung des Rätsels von der Freundin eines Italieners präsentiert: Das Lokal beliefert exklusiv jede Nacht ein Berliner Bordell. Damit verdient der Gastwirt sein Geld, das Lokal ist nur die offizielle Fassade für die unversteuerten Umsätze im sogenannten Milieu.
Es war eine gute Tat. Für die Bücher und für ihn. Er verdiente mit seinem Antiquariat nicht viel. Also schenkten wir ihm die Bücher, die wir nicht mehr haben wollten. Wir hatten wieder Platz im Regal, er hatte etwas zu verkaufen. So ging es viele Jahre. Eines Morgens im Winter fand man seine Leiche im Kreuzberger Engelbecken. Der Grund für seinen Tod wurde nie bekannt. War es ein Unfall? Hatte er Streit? Ein Selbstmord? Er ist einfach weg, aus unserem Buchmenschenleben verschwunden.
Lethe heißt ein Fluss in der Unterwelt der griechischen Mythologie, aus dem die Toten tranken, um ihr irdisches Dasein zu vergessen. Eine reizvolle Vorstellung: An einem anderen Ort noch einmal neu anfangen, ohne Erinnerung an sich selbst.
„Auch die soziale Isolierung in Künstlerberufen, in denen der Kunstschaffende auf sich allein gestellt ist und kaum besondere technische Fähigkeiten braucht (Schriftsteller) zählt zu den Faktoren, die das Suizidrisiko erhöhen.“ (Thomas Lochthowe : Suizide bei verschiedenen Berufsgruppen: Eine Übersicht, 2011)
Das Schöne bei einer Zugreise: Wir kommen alle zur selben Zeit an.
Wilson Pickett - Mustang Sally. https://www.youtube.com/watch?v=16u6w0cjjrU

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