Es schneit und tatsächlich bleibt eine dünne Schneedecke
liegen. Ich denke an die anderen Snowflakes. Die Leute, die Angst vor der
Impfung haben. Ich habe mit Leuten gesprochen, die tatsächlich glauben, auch
nach dreißig Jahren könnten noch Spätfolgen auftauchen. Wie wäre es, wenn neue
Medikamente erstmal ein halbes Jahrhundert lang getestet werden, bevor sie ihre
Zulassung bekommen? Wie wäre der Winter geworden, wenn es keinen Impfstoff
gäbe? Schon jetzt sterben um die fünfhundert Leute pro Tag, bei einer Impfquote
von siebzig Prozent.
Meine Mutter, die vorgestern ihren 82. Geburtstag gefeiert
hätte, wenn sie nicht schon 1997 gestorben wäre, hätte sich über die Snowflakes
kaputtgelacht. Null Verständnis, dafür Häme und Spott. Sie hat jeden Tag
geraucht und Wein getrunken, das Kleingedruckte auf den Aldi-Verpackungen nie
gelesen und Vegetarier wären gar nicht erst in ihre Wohnung gekommen. Angst vor
einer Impfung? Hätte sie nicht verstanden. Und den ganzen mRNA-Kram nicht
kapiert. Acht Jahre Volksschule. Das musste in der Nachkriegszeit reichen.
Nach der Scheidung in den frühen Siebzigern hatte sie
zunächst eine Halbtagsstelle als Verkäuferin in einer Modeboutique. Später dann
eine Vollzeitstelle als Putzfrau in einem Pharmakonzern, den in Ingelheim alle
nur „die Firma“ nannten. Am Anfang arbeitete sie in den Labors, in denen die
Tierversuche durchgeführt wurden. Oft saß sie abends im Wohnzimmer und weinte.
Die Tiere taten ihr leid, die kleinen Affen, die Hunde und die Katzen. Sie
trank, rauchte und ging am nächsten Tag wieder hin.
Aber dann wechselte sie innerhalb der Firma die Stelle.
Jetzt putzte sie im HPZ, im Human-Pharmakologischen Zentrum. Dort wurden die
Menschenversuche durchgeführt. Die Versuchsmenschen blieben vier Wochen dort
und durften das Gelände nicht verlassen. Sie bekamen irgendwelches Zeug
gespritzt oder schluckten Pillen. Dabei wurden ihre Reaktionen von
Wissenschaftlern beobachtet. Damit konnte man eine Menge Geld verdienen.
Meine Mutter verdiente nicht viel. Wir hatten kein Auto und
ein Sommerurlaub war auch nicht drin. Es sei denn, sie hatte einen spendablen Freund.
Da gab es zum Beispiel diesen Handelsvertreter aus dem Rheingau, mit dessen
Ford Granada wir in den späten Siebzigern zweimal in Spanien waren. Also hat
sie irgendwann auch mit den Versuchen angefangen. Das Geld konnte die Familie
gut gebrauchen. Meistens kamen die Urinproben, die sie zur Kontrolle abgeben
musste, von mir. Daher hatte sie auch nie Nebenwirkungen oder Spätfolgen. Die
kostenlose Schutzimpfung gegen eine tödliche Krankheit wie Covid-19 hätte sie
mit Kusshand genommen.
Mütter lieben ihre Kinder mehr, als Väter es tun, weil sie sicher sein können, dass es ihre sind.
AntwortenLöschenAristoteles... 🤣 *anonymst*