Mittwoch, 23. Mai 2018

Der Besuch

Er ging ins Badezimmer und hatte gerade den Reißverschluss seiner Jeans geöffnet, als er die kleine Flasche sah, die langsam an die Oberfläche schwebte. Er holte sie aus der Toilette und spülte sie im Waschbecken ab. In der Flasche war eine Schriftrolle. Er schraubte den Deckel ab und löste die Schleife, von der die Rolle zusammengehalten wurde. Dann las er die folgende Geschichte, die ihn auf so rätselhafte Weise erreicht hatte:
Meine Türklingel funktioniert schon seit Jahren nicht mehr. Ich habe sie nie reparieren lassen, denn ich erwarte ohnehin keinen Besuch. Daher war ich sehr überrascht, als ich an jenem Morgen ein Klopfen hörte. Kein zaghaftes Klopfen, wie es unter Nachbarn üblich ist. Es war ein herrisches Klopfen und es wiederholte sich kurz darauf. Es war ein Klopfen, das nach Ärger klang.
Ich zog meinen Bademantel an und schlurfte zur Tür. Zwei Polizisten in schwarzen Uniformen standen vor mir.
„Lang lebe die Kanzlerin“, sagten die Polizisten im Chor.
„Lang lebe die Kanzlerin“, murmelte ich zurück. Die übliche Grußformel.
„Sind Sie Johnny Malta?“
„Ja“, sagte ich. „Ist irgendwas passiert?“
„Wir haben uns ihre Zahlen angesehen, Mister Malta. Sie haben in den letzten Monaten nie mehr als fünfzig Euro für Lebensmittel ausgegeben. Das ist ein Verstoß gegen das Wachstumsgesetz und wird mit einem Bußgeld von hundert Euro bestraft.“
Ich war verblüfft. „Es ist verboten, sparsam zu leben?“
„Ja. Seit 2024 gibt es das Gesetz. Lesen Sie keine Nachrichten? Diese Maßnahme dient zur Stabilisierung des Bruttosozialprodukts. Fünfzig Euro! Niemand kann von so wenig Geld existieren. Erhalten Sie illegal Lebensmittel, die Sie nicht mit Ihrer Kreditkarte bezahlen?“
„Nein“, antwortete ich. „Aber ich verdiene im Augenblick nicht viel. Ich kaufe mir Toastbrot und Margarine, ab und zu ein paar Tomaten. Ich trinke Leitungswasser. Das ist doch nicht verboten, oder?“
Der ältere der beiden Polizisten studierte das Display seines Smartphones. „Sie verbrauchen auch verdächtig wenig Strom. Nur etwa ein Viertel des durchschnittlichen Verbrauchs pro Person. Was haben Sie dazu zu sagen?“
Ich kratzte mich am Kopf. „Ich benutze den Herd nicht. Der Kühlschrank ist abgeschaltet, ich nutze Energiesparlampen. Eigentlich brauche ich nur meinen Computer und abends ein wenig Licht zum Lesen.“
„Laut Ihren Kontodaten haben Sie seit einem halben Jahr kein Geld mehr verdient. Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Schriftsteller. Ich arbeite an meinem neuen Buch.“
Der Polizist tippte auf seinem Display herum. „Von Ihrem letzten E-Book wurde gerade einmal acht Exemplare verkauft. Acht. Einen Verlag oder einen Literaturagenten haben Sie auch nicht. Ihre Tätigkeit kann man wohl kaum als Beruf bezeichnen.“
„Doch, doch. Ich schreibe schon seit vielen Jahren Bücher. Ich bin sehr beschäftigt.“
Der Polizist ließ seinen Blick an meinem Bademantel entlang bis zu meinen zerschlissenen Filzpantoffeln und wieder zurück zu meinem Gesicht gleiten.
„Sie melden sich spätestens nächste Woche im Job-Center. Dort wird man Ihnen eine neue Tätigkeit zuweisen. Sie werden wieder lernen, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein, das seinen Pflichten als Konsument nachkommt.“
Ich sah stumm über seinen Stahlhelm in den düsteren Hausflur. Er hätte es nicht begriffen. Ich muss schreiben, ich kann gar nicht anders. Die Geschichte ist da, sie ist in meinem Kopf, also muss ich sie aufschreiben. Warum muss der Bergsteiger den Berg besteigen? Weil der Berg da ist. Ganz einfach. Es gibt keine zweite Möglichkeit. Ich brauche die Zeit zum Schreiben, sonst werde ich wahnsinnig.
„Ihr Verhalten schadet dem Volk“, sagte er und drückte mir den Zahlungsbefehl über einhundert Euro in die Hand.
„Dem Volk? Ich schade doch höchstens den Konzernen und dem Staat“, sagte ich.
„Wo ist da der Unterschied?“ fragte der Polizist und drehte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten.
Dann ging er mit seinem Kollegen die Treppe hinunter.
Lang lebe die Kanzlerin.
Bush - Cold Contagious. https://www.youtube.com/watch?v=pjZj4auT0l8

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