„Und seine Augen strichen über das vollbeladene Bücherregal, über die stattliche Brigade von Büchern hin, die in Habachtstellung dastanden und auf denen mein Name wie das Auge eines Panthers aus dem ledernen Dunkel leuchtete.“ (Ray Bradbury: Der wunderbare Tod des Dudley Stone)
Er wusste nicht sehr viel über den Schriftsteller, dessen Werk er geradezu verehrte. Bernhard Jäger. Geboren 1966. Zu seinem Privatleben fand man bei Wikipedia überhaupt nichts, dafür lange Inhaltsangaben und Analysen zu seinen Romanen. Die Vielfalt der Figuren und Geschichten wurde gerühmt, jeder Roman war aus der Perspektive eines anderen Menschen geschrieben. Auch die Sprache war stets eine andere, Jäger überraschte seine Leser mit neuen Perspektiven, kein Buch war wie das andere.
In einem Interview hatte er gelesen, dass Jäger ein altes Holzhaus auf Hiddensee bewohnte. Eines schönen Tages beschloss er darum, den Schriftsteller zu besuchen. Er würde ganz höflich an der Haustür um ein Autogramm auf dem Vorblatt seines Lieblingsromans „Ein Sonntag ohne Sonne“ bitten und hoffte, den berühmten Autoren in ein kleines Gespräch zu verwickeln. Er fuhr mit dem Zug nach Rügen und setzte mit der Fähre auf die kleine Insel über. Er war überrascht, wie bereitwillig die Einheimischen ihm den Weg zum Haus seines Idols zeigten.
Er fühlte sein Herz schlagen und ein Kloß saß ihm im Hals, als er bei Herrn Jäger klingelte. Eine Frau öffnete ihm und fragte, was er wünsche. Er wolle nicht stören, sagte er, er hätte gerne den Schriftsteller um eine Widmung für ein Buch gebeten. Die Frau lächelte und bat ihn ins Haus. Sie bot ihm einen Platz im Wohnzimmer an und versprach, ihren Mann zu rufen.
Kurz darauf erschien Bernhard Jäger. Ein gewaltiger Mann mit breiten Schultern und einem schwarzen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Er trug dunkelgrüne Cordhosen, ein weißes Hemd und eine schwarze Weste. Sein Besucher holte das zu signierende Buch hervor und äußerte zaghaft seinen Wunsch. Lächelnd nahm Jäger das Buch und schrieb die Widmung. Er fragte seinen Gast, ob er nicht auf eine Tasse Kaffee bleiben wolle. Hoch erfreut willigte der Mann ein. Endlich war er dem großen Künstler nahe. Endlich konnte er ihn fragen, wie er auf die ganzen Ideen in seinen Büchern kam, wie er arbeitete, was er für die Zukunft plante. Er war ganz aufgeregt.
Es sei gar nicht so schwierig, sagte Jäger. Er sei ein guter Zuhörer, das sei das ganze Geheimnis. Er bat seinen Gast, doch ein wenig von sich zu erzählen. Geschmeichelt begann der Mann, von seinem Beruf als Briefträger zu erzählen, in dem man allerlei erleben konnte. Frauen, die mit offenem Morgenmantel öffneten. Männer, die mit offenem Morgenmantel öffneten. Schwatzhafte Rentner und geheimnisvolle Gestalten. Nach etwa zwei Stunden entschuldigte sich Jäger. Er müsse ein wenig arbeiten, bat seinen Gast jedoch, noch ein wenig zu bleiben. Während Frau Jäger ihm ein Stück Schokoladenkuchen mit Sahne servierte, hörte man aus dem Nachbarzimmer, wie Jäger an der Schreibmaschine arbeitete.
Nach zwei Stunden kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Es war schon spät und er bat seinen Gast, doch zum Abendessen zu bleiben. Es gäbe Heilbutt und er habe noch eine Flasche französischen Rotwein im Hause. Der Mann wusste gar nicht, wie ihm geschah. Es war ein Wunder! Er war von dem berühmten Mann nicht abgewiesen worden, sondern genoss die Gastfreundschaft und die intime Nähe zu seinem Idol. Träumte er? Seine Kollegen würden ihm nie glauben, was er hier gerade erlebte.
Das Esszimmer leuchtete festlich im Kerzenschein und das Essen war vorzüglich. Nach dem Essen bot Jäger seinem Gast eine Zigarre an und sie rauchten gemütlich, als Jäger seinen Gast nach seinen Jugenderinnerungen fragte. Der Mann begann zu erzählen. Von seiner Kindheit mit einem trunksüchtigen Vater, der im Gefängnis landete. Von seiner Flucht aus der Provinz nach Berlin im Alter von fünfzehn Jahren. Von seiner ersten Liebe, von Reisen und von Abenteuern.
Es war schon spät geworden. Jetzt fuhr keine Fähre mehr nach Rügen. Jäger bat seinen Gast, doch auf dem Sofa im Wohnzimmer zu übernachten. Benebelt vom Wein nickte er matt. In der Nacht hörte er, wie Jäger seine Schreibmaschine bearbeitete. Irgendwann schlief er ein und als er am nächsten Morgen aufwachte, sah er wie einen Mond das breite Gesicht des Schriftstellers über sich.
Nach dem Frühstück erzählte der Mann wieder seine Geschichten, wieder verschwand Jäger in sein Arbeitszimmer, um zu schreiben. Er fühlte sich durch das Interesse des Schriftstellers geschmeichelt. Hatte ihm je ein Mensch so geduldig zugehört wie Bernhard Jäger? Am Nachmittag die gleiche Prozedur. Irgendwann fiel dem Mann nichts mehr ein. Ob er noch eine Geschichte erzählen könne, fragte der Schriftsteller. Der Mann verneinte.
Eine Woche später wurde seine Leiche an den Strand von Rügen gespült. Drei Monate später erschien „Wirf dein Leben in den Briefkasten“ von Bernhard Jäger. Es wurde ein großer Erfolg.
The Police - Bring On The Night. https://www.youtube.com/watch?v=Bz1mEMiNPHQ
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