Mittwoch, 30. Mai 2018

Harlekin

„Ein Tag ohne Bier ist wie ein Tag ohne Wein.“ (Thomas Kapielski)
Einige Kilometer von unserem Dorf entfernt liegt San Daniele. Der Ort ist nicht sehr groß, aber es gibt ein paar Geschäfte, ein paar Lokale und eine große Piazza in der Mitte. Gegenüber der Kirche gibt es ein gemütliches Weinlokal und ich beschloss eines Tages, dort Stammgast zu werden.
Ich ging hinein und setzte mich an einen Tisch in der Ecke. An den Wänden waren viele Fotografien aus alten italienischen Filmen. Adriano Celentano und Ornella Muti, Sophia Loren und Marcello Mastroianni waren auf den Bildern zu sehen. Ich bestellte ein Glas Wein und betrachtete mir die Bilder und die anderen Gäste im Lokal. Junge und ältere Pärchen, die Lastwagenfahrer an der Theke, die gerne auf ein Glas herein kamen, und die Kartenspielerrunde am großen Tisch in der Mitte, verwegen aussehende Männer in Nadelstreifenanzügen mit dicken Zigarren und öligem Haar.
Auf dem Weg nach Hause machte ich ein Spiel. Ich wollte so schnell wie möglich wieder zu Hause sein, also rannte ich auf der Piazza los. Quer über den Platz, die steile Treppe an der Kirche hinauf und dann die Straße, die in die Felder führte. Schon vor dem Ortsausgang ging mir die Puste aus. Schwer keuchend ging ich den Rest des Weges bis zu unserem Dorf.
Bei meinen nächsten Besuchen begann der Wirt, den unbekannten Gast ein wenig auszufragen. Angeregt durch die Filmplakate und Fotos erzählte ich ihm, ich würde noch bei meiner Mutter wohnen, die mir das Geld für den Gasthausbesuch freundlicherweise zur Verfügung stelle. Ich verriet ihm, dass ich aus Strugazzi sei, von einem Leben als Filmstar träume und mich gerne als Harlekin verkleide. Das alles stimmte natürlich nicht, aber es machte mir Spaß, die Geschichte weiterzuspinnen. Bald hatte ich die Rolle des ortsfremden Idioten, der hinter seinem Rücken mit dem Spitznamen „Arlecchino“ bezeichnet wurde.
Auf dem Weg in unser Dorf rannte ich und alle Leute in San Daniele dachten, ich würde zu spät nach Hause kommen. Sie lachten, wenn sie sich vorstellten, dass ich Ärger mit meiner Mutter bekäme. Ich wurde immer besser. Bald konnte ich nicht nur den Weg in die Felder rennen, sondern den ganzen kilometerlangen Heimweg. Ich steigerte mich von Mal zu Mal und wurde ein richtig guter Läufer.
Dann kam der große Abend. Ich bestellte nicht nur Wein, sondern auch das beste Essen von der Speisekarte. Der Wirt machte große Augen und ich erzählte ihm, meine Mutter hätte mir an diesem Tag besonders viel Geld mitgegeben, weil es mein Geburtstag sei. Ich trank einige Gläser vom teuersten Wein und wurde dann so verwegen, mich an den Kartenspielertisch zu setzen. Ich fragte, ob ich mitspielen dürfe, und die Männer mit den Zigarren und dem öligen Haar grinsten nur. Ich verlor eine Menge Geld, das der Wirt auf meine Rechnung schrieb. Als ich zahlen wollte, sagte ich ihm, er solle mir noch zehn Celentano-DVDs, die er in seinem Lokal verkaufte, in eine Tüte packen.
Der Wirt kam mit den Filmen und seinem Rechnungsblock. Er konnte sich vor Lachen kaum halten, als er die Zahlen aufschrieb. Alle Menschen im Lokal lachten und ich lachte mit ihnen zusammen. Was für ein schöner Abend! Was für ein schöner Geburtstag!
„732 Euro“, sagte der Wirt.
„Ich habe kein Geld“, antwortete ich ihm ruhig.
„Was?!“
„Ich habe kein Geld.“
Dann rannte ich mit einem Affenzahn aus dem Lokal, über die Piazza, die steile Treppe an der Kirche hinauf bis nach Hause, ohne mich auch nur einmal umzudrehen.
P.S.: Geträumt am 30.4.2018.