Donnerstag, 8. Oktober 2009

Brunnenkiez-Krimi Nr. 7


Thorsten Schelmikov hatte jahrelang als freiberuflicher IT-Berater in einer Kugellagerfabrik in Mettmann gearbeitet. Genauer gesagt war es eine Kugellagerkugelfabrik, denn sie stellten dort nur die kleinen Kugeln für die Kugellager her. So in etwa wie in der Simpsons-Folge, als die Kinder in einer Pappkartonfabrik gesagt bekommen, das dort die Kartons nur hergestellt würden und dann in Tennessee oder so gefaltet werden. Sein Job in der Fabrik bestand zu neunzig Prozent in Anrufen von Sekretärinnen, die Probleme mit dem Hochfahren des Computers hatten. Thorsten kam dann in seinem C&A-Anzug, holte die Diskette aus dem Laufwerk, die das Hochfahren verhindert hatte, und erklärte Fr. Müller oder Frau Meier zum hundertsten Mal geduldig, dass man die Disketten vorher entfernen müsse. Frau Müller oder Frau Meier ist Ende Fünfzig, hat eine Dauerwelle, sitzt seit über dreißig Jahren im Vorzimmer des Abteilungsleiters für Kugellagerkugelbeschichtung und ist ein absoluter Null-Checker. Aber dann wurde die Fabrik an eine Heuschrecke verkauft und schließlich geschlossen. Als Freiberufler hatte er keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld und seine Ersparnisse waren nach erschreckend wenigen Monaten aufgebraucht gewesen.

Jan Mardo saß an seinem Arbeitsplatz, seine Hände ruhten nutzlos auf den Oberschenkeln. Er betrachtete die wenigen persönlichen Bilder auf seinem Monitor, die er in den vergangenen Jahren von Mary und seinen Freunden gemacht hatte. Es war schon komisch: Alle Menschen, die sich nicht gerne fotografieren lassen, sind total nett, und alle, die sich gerne fotografieren lassen, sind komplette Vollidioten. Also war es offenbar gut, so wenige Bilder gespeichert zu haben, sagte er sich. Seine berufliche Motivation näherte sich, nachdem er die Stadien der Selbstkritik und der Resignation hinter sich gelassen hatte, langsam einem Punkt, den man durchaus als finsteren Zynismus bezeichnen konnte. Er hatte eine ganze Woche mit einer Sommergrippe zu Hause verbracht, tagsüber in einem Sessel mit Blick auf den Mauerpark. Sein schmaler Schädel glühte und fünfmal am Tag musste er das Hemd wechseln. Das Lesen strengte ihn zu sehr an, das Fernsehen langweilte ihn und so hörte er den ganzen Tag leise Musik und sah aus dem Fenster. Bis er eines Tages anfing, die Gegend durch das Teleobjektiv seiner Detektivkamera zu beobachten. Das hatte ja schon in einem Hitchcockfilm als Zeitvertreib funktioniert. Und tatsächlich hatte er im Mauerpark ein paar merkwürdige Freaks beobachtet, die einen alten Mann brutal niedermetzelten. Er hatte sofort die 110 angerufen und nach einer Weile, in der er ungeduldig der Bandansage der Berliner Polizei gelauscht hatte, konnte er das Verbrechen melden. Die Schmach war kaum zu ertragen, er hatte eine Probe von "Shakespeare im Park" beobachtet und irgendwann hatte die B.Z. Wind von der Sache bekommen.

Schelmikov stammte eigentlich aus Ostfriesland, einem öden, gleichförmigen Landstrich unter einem grauen Himmel. Die ganze Gegend flach bis zum Horizont oder zum Deich, alles nur Grün und Braun, jede Wüste war interessanter. Wüsten werden von Wind und Sonne gemacht, seine alte Heimat ist von Menschen gemacht worden. Genauer gesagt: von Ostfriesen. Und so ging es über Mettmann nach Berlin. Genauer gesagt: über Köln nach Berlin. Denn er hatte sich vor einem Jahr bei RTL im Casting für "KSKS" (Köln sucht krassen Superstar) gegen zehntausende talentlose Heulbojen und Dorfschönheiten durchgesetzt und hatte es unter die letzten fünf geschafft. In der "Bravo" gab es damals sogar einen Artikel über ihn und er war mehrfach in diversen Kneipen von Zuschauern wiedererkannt worden. Er hatte einen Vertrag mit einer fetten Major-Plattenfirma unterschrieben, allerdings war bisher nicht ein Stück mit ihm produziert worden. Irgendwann ging dann die neue Staffel von KSKS los und es wurde etwas ruhig, was die Fortschritte seiner künstlerischen Karriere anging. Und jetzt brauchte er einfach Geld. Also versteckte sich Schelmikov in einer Wohnung in der Wolgaststraße. Wenn er aus dem Fenster sah, blickte er auf einen Spielplatz, vor dem Plakate wie "Kinder statt Kohle" hingen. Winnie hatte ihm erzählt, dass hier demnächst Hochhäuser gebaut würden. Winnie besorgte auch Bier, Chips, Schokolade und Zigaretten. Schelmikov durfte nicht gesehen werden.

Mardo saß am Fenster seines Büros in der Ramlerstraße und beobachtete den Regen, der von unregelmäßig auftretenden Böen gegen die Scheiben geworfen wurde. Das war also der Sommer. Nur Marys Sommersprossen entsprachen seiner Erwartung, sie erschienen im Mai in der Gegend um ihre schmale Nase und verschwanden im Oktober wieder. Der Heinrich-Seidel-Schule, auf die Mardo schaute, wenn er den Kopf zum Fenster seines Büros drehte, wurde vor kurzem ein wichtiger Preis verliehen, weil die Lehrer und Schüler ein paar neue Ideen hatten. Auf dem Schulhof gab es jetzt "Konfliktlotsen", die Schulhofstreitereien mit friedlichen Mitteln schlichteten. Wenn es sowas auch für Erwachsene gäbe, wäre er als Privatdetektiv bald arbeitslos. Den ganzen Tag schon hatte er ein merkwürdiges Gefühl gehabt, so wie wenn man den ganzen Freitag denkt, es sei schon Samstag. Oder wenn man beim Anblick eines fremden Menschen nicht sofort erkennt, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Oder als sähe man einen alleinstehenden heterosexuellen Mann mit einem Einkaufswagen voller Gemüse. Dann betrat endlich ein Kunde sein Büro. Er hatte eine hohe Stirn, eine spitze Nase, ein geschwungenes Mündchen, dazu kluge schwarze Knopfaugen und botoxglatte Haut. Mit dem huldvollen Lächeln eines Bankdirektors reichte er Mardo seine Visitenkarte. Winfried Wuppdich aus Westwestfalen.
"Es handelt sich um eine Entführung. Die unbekannten Erpresser wollen 1,5 Millionen Euro von der Plattenfirma meines Mandanten Thorsten Schelmikov. Wir suchen einen zuverlässigen Mann für die Übergabe."
"Wie sieht mein Auftrag konkret aus?" Mardo versuchte kühl zu wirken, aber er spürte, wie sein Herz gegen den Brustkorb trommelte. Hier ging es um Schwerverbrechen und große Summen.
"Sie treffen sich in zwei Stunden mit dem Mittelsmann der Entführer. Der Mann wird Ihnen alles erklären, morgen sollen Sie dann den Schließfachschlüssel übergeben. Am Bahnhof Gesundbrunnen wird das Geld deponiert."
Mardo hatte verstanden, Wuppdich setzte trotz des trüben Wetters seine Sonnenbrille auf, die vom Haaransatz bis zur Oberlippe reichte, so dass er wie ein Insekt wirkte. Dann stolzierte er auf die Straße. Seit langem fiel es Mardo auf, wie ursprünglich kleine Gegenstände immer größer wurden: Sonnenbrillen, Kopfhörer und Armbanduhren.

Mardo hatte etwas herumtelefoniert und im Internet gegoogelt. Schelmikov war ein absoluter Niemand in der siechenden Welt der Plattenindustrie. Wer sollte soviel Geld für ihn bezahlen? Dann hatte sein alter Freund, Kommissar Leber vom LKA 1, zurückgerufen. Die Plattenfirma wusste nichts von den Lösegeldforderungen und die Familie Schelmikov war nach Datenlage nicht vermögend. Vater: Schichtarbeiter bei Volkswagen in Emden, Mutter: Hausfrau und Nebenerwerbsbäuerin. Mardo ging über den Vinetaplatz, während er das Handy an sein rechtes Ohr hielt. Ein alter Mann auf Krücken kickte übermütig wie ein kleiner Junge ein Steinchen ins Gebüsch, eine Horde Kinder hatte ein kleines Feldlager mit Limonadeflaschen, Keksschachteln und Chipstüten aufgeschlagen. Er lief weiter, noch hatte er Zeit, sich einen Plan zu überlegen. An der Brunnenstraße stand das alte Tor der AEG, einem untergegangenen Konzern, die in diesem Kiez viele tausend Menschen beschäftigt hatte. Mardo mochte die riesigen Unternehmen und Bürokratien nicht, die das Leben auf diesem Planeten beherrschten. In seinen Augen waren es furchterregende Monster, die jungen Menschen beim Eintritt ins Berufsleben den Kopf abbissen und sich mit dem Rest den Hintern abwischten. Zwei Polizeibusse jaulten und heulten die Brunnenstraße nach Norden hinauf. Es musste etwas Besonderes passiert sein, denn Mardo sah, wie sich die Beamten ihre schusssicheren Westen anzogen. Er rief noch einmal Leber an und erzählte ihm von seinem Plan. Leber war einverstanden.

Mardo fuhr im Bus an einer langen Schlange vor einer Kleiderausgabe für Bedürftige vorbei. Er wunderte sich, wie normal die Leute in der Schlange aussahen. Ein Vater, der vor ihm saß, zeigte einem Kleinkind den Fernsehturm. Das Kind griff nach dem Spiegelbild der väterlichen Hand auf der Scheibe und lachte. Hinter ihm diskutierten ein paar Kinder, ob Russen "auch Ehrenmord machen". Eine verschlafen und verquollen wirkende Unterschichtblondine stieg an der nächsten Haltestelle zu. Ein Arbeiter mit Turnschuhen und abgewetzter Mappe unterm Arm. Man wusste nicht, ob es Wet-Gel oder natürliches Haarfett war, das sein Haar schwarz glänzen ließt. Arbeit, Supermarkt, Fernsehen. Die Frau mit dem Kopftuch, die komplett in Schwarz gekleidet war. Sie saß auf der Rückbank des Busses und gab ihrem Kind die Brust. An den Häusern Graffiti wie "Kunst trotz(t) Armut", "Bildet Banden", "Vattenfall = Zwischenfall" oder einfach nur "THC ...". Männer über fünfzig, die mit gesenktem Haupt und Händen in den Hosentaschen die Bürgersteige entlang schlurften. Man sah ihnen an, wie mühsam sie die Zeit totschlugen. Es gab einen Typ Arbeitsloser, dem man seine Situation auf den ersten Blick ansehen konnte. Dann ein Mensch mit Halbglatze und Vollbart, der wild zuckend stumme Selbstgespräche führte.

Schließlich betrat er den Ort des Geschehens, ein Lokal namens "Marx" am Görlitzer Park in SO 36. Aus den Lautsprechern erklang spanisches Selbstmitleid und Gejammer aus rauhen Kehlen an einer Reduktion aus Akustikgitarren. Am Tresen stand ein Punk mit pinkfarbenem Irokesen und mindestens fünfzig Kilo Übergewicht um den Äquator herum. Auf seinem uncoolen T-Shirt stand "Welcome to Kreuzberg", er lächelte jovial und etwas unsicher, als Mardo das Lokal betrat. Du bist es nicht, dachte Mardo, und setzte sich an einen der hinteren Tische. Er bestellte ein Radler und fragte die Kellnerin, warum es eigentlich kein Radler mit vollem Alkoholgehalt gäbe. Das sollte – Mardo fand es albern und absurd – das Stichwort für den Kontaktmann sein. Ein Mann mit einer, sich offensichtlich im Trend befindlichen Ola-Uku-Frisur (oben lang, unten kurz, Pferdeschwanz über ausrasiertem Nacken) drehte sich kurz um. Du bist es auch nicht, wusste Mardo. Aber ein anderer Mann faltete seine Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch und stand auf. Er trug eine dunkle Base-Cap, eine rechteckige Brille mit dicken schwarzen Rändern, einen grünen Parka und darunter ein schwarz-grau geringeltes Hemd. Er hatte tiefliegende hellblaue Augen, eine hervorspringende Nase und ein wulstartiges Kinn, das durch die mangelnde Rasur noch hervortrat. Die langen taxifarbenen Koteletten des jungen Mannes erinnerten Mardo an Klettverschlüsse.
"Sie sind Jan Mardo?" Der Mann hatte sich zu ihm gesetzt, ohne eine Antwort abzuwarten.
Mardo nickte nur stumm.
"Kannste von sowatt überhaupt leben? Ick meene, Privatdetektiv unn so?"
"Im Hauptberuf bin ich Schläfer. Die tschetschenische Mafia bezahlt mich," antwortete Mardo staubtrocken.
"Echt, ey? Ditt is ja’n Ding."
"Das war doch nur ein Spaß. Haben Sie Ihre Medikamente nicht genommen?" Mardo fühlte sich ganz sicher. Leber war in der Nähe und er selbst war nur Teil der Show. Niemand würde 1,5 Millionen zahlen, niemand war entführt worden und die ganze Sache war sicher nur inszeniert, um ein Maximum an medialer Aufmerksamkeit um ein Minimum an Gesangstalent zu versammeln.
"Kiek an, een Spaßvogel. Alter Verwalter!" rief der junge Mann, der sich geistreich als Mister Blue vorstellte. Mardo kannte alle Tarantino-Filme. Echte Berliner wie dieses Exemplar traf man nur selten in der Stadt und wenn man einen kennenlernte, hatte er im Normalfall einen absoluten Durchschnittsberuf wie Busfahrer, Krankenschwester oder Polizist. Berufe wie Informatiker, Dirigent oder Seiltänzerin wurden von Zugereisten ausgeübt. Die Bio-Berliner bildeten quasi das Rückgrat der Stadt und die Projektionsfläche für all die Menschen, die einmal einen Grund gehabt hatten, in diese Stadt zu kommen.


Der Rest ist schnell erzählt und wie immer erschreckend banal, wenn man es mit der Pisa-Generation des deutschen Verbrechens zu tun hatte. Leber verfolgte den jungen Mann, nachdem dieser das "Marx" verlassen hatte. Brav führte der ahnungslose Mister Blue den Kommissar in die Wolgaststraße und Schelmikov tritt demnächst in Moabit auf.

Am nächsten Tag schaute Mardo wieder durch das Teleobjektiv auf den Mauerpark hinunter, der herbstbunt vor seinem Wohnzimmerfenster lag. Einige wohlsituiert wirkende Menschen standen in einer Gruppe zusammen, es war Mardo, als würde die bürgerliche Anständigkeit aus ihnen herausleuchten. Sicher begutachteten sie die Grundstücke, auf denen ihre Luxusappartementhäuser gebaut werden sollten, die eines Tages Mardo, seiner Freundin und den anderen Mietern das Sonnenlicht nehmen würden. Als würde die gutbürgerliche Wohlanständigkeit geradezu aus ihnen herausleuchten, dachte Mardo, aus dieser gold-, chrom- und lederglänzenden Mischpoke herausgleißen, das man es nicht mehr aushalten könne. Und so hätte es vermutlich auch Thomas Bernhard formuliert, dachte Mardo, schrieb der Autor am Ende.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen