Donnerstag, 18. November 2021

Mein Leben als Dieb

 

Wann fing das an? Ich schätze, es war 1980. Wir hatten gerade mit dem Rauchen angefangen. Trafen uns nachmittags hinter der Sporthalle und qualmten. Manche pafften noch, aber der Lungenzug wurde uns in kurzer Zeit zur Gewohnheit. Einstiegsdroge Nikotin. Alle Eltern rauchten damals. Zuhause ein paar Zigaretten mitgehen lassen, kein Problem.

Aber irgendwann brauchten wir mehr. Ich steigerte meinen Konsum von drei Zigaretten pro Woche auf eine tägliche Dosis von mindestens einer Zigarette. Das Taschengeld brauchten wir für Mad, Zack und Titanic, Süßigkeiten und Eis. Zum Thema Droge gehört auch immer das Thema Beschaffungskriminalität, nicht nur für die Junkies, die damals am Bahnhof Zoo rumlungerten, sondern auch für Gymnasiasten in einem Provinznest.

Wir machten es zu zweit. Das war der Plan. Wenn wir es nicht gebacken kriegen, kein Problem. Abbruch und Abflug. Ein kleiner Tante-Emma-Laden. Mein Freund lenkte die einzige Frau im Laden ab. Fachfragen zum Kleingedruckten auf einer Kekspackung oder so. Er hat damals improvisiert, während ich vorne an der Kasse stand. Als sie mir beide den Rücken zukehrten, habe ich mir zwei Schachteln Kippen gegriffen und bin einfach gegangen.

Ein paar Minuten später saßen wir auf einer Parkbank und konnten vor Aufregung kaum sprechen. Es hatte geklappt! Wir waren nicht erwischt worden. Droge Adrenalin. Dopamin. Kannte ich bisher nur vom Fußball, wenn ich ein Tor geschossen hatte. Ich riss die Packung Camel auf und klopfte lässig zwei Zigaretten raus. Wir fühlten uns wie Sieger, als das gestohlene Nervengift in unseren Körper sickerte.

Rückblende. Kindheit. Meine Mutter und meine Großmutter waren Kriegsflüchtlinge. Hatten damals nix. Haben das Stehlen gelernt. Und es ist nie wieder weggegangen. Meine Mutter vertauschte die Preisschilder in Supermärkten, stopfte sich den Mund mit Obst voll und legte die Bravo für meine Schwester in die Bildzeitung. Ich habe mich als Kind zu Tode geschämt und bin an der Kasse tausend Tode gestorben. Meine Mutter hatte Ruhepuls. Oma genauso.

Es blieb natürlich nicht bei Zigaretten. Ich brauchte nicht nur regelmäßig Nikotin, sondern auch Lesestoff. Bücher. Bald war ich in der großen Pause regelmäßiger Gast in einer Buchhandlung in der Nähe unserer Schule. Schon das Verlassen des Schulhofs war ein Bruch der Regeln, aber wenn du regelmäßig erfolgreich die Regeln brichst, bekommst du eine Hornhaut. Die Buchhandlung war aufgebaut wie eine Bibliothek. Reihen von Regalen bis zur Decke, die vom Kassenbereich nicht eingesehen werden konnten. Dort steckte ich die Beute in die großen Innentaschen meiner Jeansjacke. Bis Ende vierzig habe ich solche Kleptomanenjeansjacken getragen, obwohl ich da schon längst nicht mehr geklaut habe.

Da war ich schon fünfzehn oder sechzehn. Mein Freund hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Branche verabschiedet. War beim T-Shirt-Klauen in einem Kaufhaus erwischt und von der Polizei nach Hause gebracht worden. Analoger Shitstorm mit Gebrülle, Taschengeldentzug und Ohrfeigen. Bei mir ging es in die andere Richtung. Ich wurde mutiger. Klaute am Zeitschriftenständer der Buchhandlung, also quasi direkt neben der Buchhändlerin, regelmäßig den Playboy. Dazu Penthouse und Lui. Ich wurde der King in meinem Freundeskreis. Bilder von nackten Frauen waren damals wertvoller als pures Gold. Durfte man erst ab 18 kaufen.

Der Höhepunkt war der Plattenladen in Bahnhofsnähe. Ein winziges Geschäft, vielleicht dreißig Quadratmeter Fläche und vollgestopft mit LPs und Singles. Oft war ich allein mit dem Verkäufer im Laden. Rücken zum Verkäufer, Platte in die Jeansjacke geschoben, Knöpfe zu und im Rausgehen noch freundlich Tschüss sagen. Teilweise habe ich meine Beute auf dem Schulhof verkauft. Sie haben Interesse an großen Titten und Rock’n Roll? Wenden Sie sich vertrauensvoll an die Firma Eberling.

Wann hörte das auf? Vermutlich nach dem Abitur, als ich erkannte, dass man mit Dope viel leichter an Geld kommen konnte als mit gelegentlichem Kleinganoventum in den Läden meiner Heimatstadt.   

P.S.: Ich habe mal einen Tag für Woolworth gearbeitet und sollte die Kunden zählen. Ich habe dort nie etwas geklaut, weil es unter meiner Würde gewesen wäre. Außerdem sind die großen Läden immer gut überwacht. Ich sitze also mit meiner Strichliste an einer Kaffeebar im Kassenbereich, als der Typ hinter der Theke („Barista“ sagte man damals noch nicht) mit einem Plastikbecher Kakao zu mir kommt und ihn vor mir abstellt. „Von dem Mann da drüben“, sagt er und geht. Ich sehe zu dem Mann rüber und er nickt mir zu. Wie im Western. Saloon-Szene. Ich nehme also meinen Becher und gehe lässig zu ihm hinüber. Er stellt sich als Ladendetektiv vor. Er fragt, ob ich nicht Lust hätte, als sein Assistent zu arbeiten. Aushilfsweise, wenn im Kaufhaus viel los ist. Er prahlt damit, wie viel man in dem Job verdienen kann. Er weiß nicht, wer ich wirklich bin. Mit meinem Fachwissen als Ladendieb wäre ich der perfekte Jäger gewesen. Aber die Seiten wechseln? Teil des Systems werden? Ging einfach nicht.  

Extrabreit - Kleptomanie (Remastered Real Video) (1982) - YouTube

1 Kommentar:

  1. Sehr schön.
    Und solchen Leuten wollen die Regierenden eine Kampagne verkaufen?
    Geht einfach nicht.

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