Freitag, 8. Juli 2016

Udo Blei

„Es ist eine üble Ausgeburt von Tag, die ihre ganzen Kräfte bündelt.“ (Kiezneurotiker)
Er steckte zwar nicht bis zum Hals in der Scheiße, aber bis zum Hals in dieser grauenhaften dunkelgrauen Bürouniform. Er lief die Schönhauser Allee hinunter. Es war Mittagszeit, der Bürgersteig war voller Menschen. Touristen, Studenten, Mütter – Menschen mit Zeit. Aber er hatte nur fünfundvierzig Minuten Mittagspause, also war er auf dem Weg zum „Lamponi“, einem Italiener, der ein Lunchangebot hatte: „Menü mit zwei Gängen, Softdrink, Espresso für neun Euro. Wir servieren das Essen in weniger als fünfzehn Minuten. Garantiert!“
Er wusste nicht, dass seine Frau gerade in diesem Augenblick an ihn dachte. „Er sieht in letzter Zeit nicht gut aus. Ich sehe es doch: Er macht sich Sorgen. Ich kann es spüren. Er ist abends immer so unkonzentriert. Diese Umstrukturierung in seiner Firma macht ihm zu schaffen. Wenn seine Abteilung mit einer anderen Abteilung zusammengelegt wird, werden sicher Köpfe rollen. Sonst würden sie es ja nicht machen, wenn man nicht irgendwo sparen könnte. Ständig schicken sie ihn auf Dienstreisen, während sich die Kollegen beim Chef beliebt machen können.“
Ein Obdachloser, der vor einem Supermarkt saß, sah ihn an und dachte: „Der feine Pinkel. Der hat’s eilig. Der hat zu tun. Hör mir doch auf. Der sieht so ernst aus, dabei müsste er lachen. Er hat die Taschen voller Geld. Der Mann hat keine Sorgen. Der kann sich kaufen, was er will. Wenn er eine Flasche Schnaps will, geht er einfach in den Laden und kauft sich eine. Diese Typen gehen jeden Tag ins Restaurant und zu Hause wartet eine Frau auf sie. Schicke Wohnung. Der sieht nicht so aus, als ob er Miete zahlen müsste. Aber Leute wie mich guckt der nicht mal mit dem Arsch an.“
Boris, ein alter Schulfreund von Udo Blei, dachte auch gerade an ihn: „Mensch, seit der Kerl Familie hat, sehe ich ihn kaum noch. Vielleicht hat er am Wochenende ja Lust, mal ein bisschen um die Häuser zu ziehen? Ute wird es nichts ausmachen, die lädt sich ein paar Freundinnen ein. Mädelsabend, Schampus. Die ist froh, wenn sie mich nicht sieht. Sie hat doch sowieso nur noch Augen für unser Baby. Im Königreich Lea gibt es weder Tag noch Nacht, keine Demokratie, keine Vierzig-Stunden-Woche, keine Pausen. Außerdem habe ich hier in der Kanzlei so viel um die Ohren … - wir besaufen uns bis zum Pupillenstillstand. Ziehen uns nachts eine Currywurst rein – das letzte Bier auf einer Parkbank im Tiergarten, wie früher!“
Eine Rentnerin sah Blei, wie er ein Restaurant betrat. „Ja, die jungen Leute“, dachte sie. „Die denken nicht an morgen, die wissen gar nicht wie das ist, wenn man alt wird. Mein Mann hat früher seine Stullen und seine Thermoskanne mit auf die Arbeit genommen, aber heutzutage sind die Leute ja zu faul, sich selbst ein Brot zu schmieren. Da kaufen sie die teuren belegten Brötchen beim Bäcker und Kaffee für fünf Euro. Für das Geld bekomme ich ein ganzes Brot und ein Pfund Kaffee. Aber so denken die nicht. Die denken nicht an später. Unsereins muss sehen, wie man über die Runden kommt. Wir haben noch gelernt, wie man mit dem Geld umgehen muss. Nach dem Krieg hatten wir ja nichts.“
Die Praktikantin dachte an ihren Ausbilder, während sie die Kostenvoranschläge für das Meeting am Nachmittag kopierte. „Der Udo ist ein netter Kerl. Schade, dass er verheiratet ist. Hat mich gleich vor dem Schwein in der Buchhaltung gewarnt, der hinter allem her ist, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Hat mich nach einer Woche von der Zicke im Abteilungssekretariat und diesem Wichtigkeitskasper von Chef abgezogen. Da wäre ich ja wahnsinnig geworden! Mit Udo kann man reden. Der interessiert sich auch nicht für Fußball, Börse oder den anderen Männerscheiß. Mit dem würde ich gerne mal abends einen trinken gehen. Aber ich kann ihn natürlich nicht darauf anquatschen. Vielleicht kommt er ja von selber drauf?“
Der albanische Wirt des Lokals sah ihn durch die Tür kommen. „Dienstag“, dachte er. „Und natürlich kommt dieser Bürohengst pünktlich um zwölf Uhr zehn durch die Tür, nimmt wie immer die Tagessuppe, das Tagesgericht und ein stilles Wasser. Jeden Dienstag das gleiche Ritual. Wird sich sein Leben je ändern? Wird sich mein Leben je ändern? Er ist in einem Tunnel, der abwesende Blick. Nichts in meinem Lokal interessiert ihn wirklich. Ob er weiß, dass Lamponi das italienische Wort für Himbeeren ist?“
Sein Sohn saß auf dem Boden des Spielzimmers in der Waldorf-Kita. „Heute Abend kommt Papa heim und dann spielen wir Lego. Das hat er versprochen. Mein Papa ist ganz wichtig. Der muss viele Reisen machen. Und an meinem Geburtstag bekomme ich endlich das Fahrrad. Ein rotes Fahrrad.“
„Dieser Blei“, dachte sein Vorgesetzter, als er am Schreibtisch das Sandwich auspackte, das ihm seine Sekretärin im Feinkostladen geholt hatte. „Was mache ich mit diesem Blei? Der Mann ist gut. Sicher. Aber das sind sie alle. Keine Fehlzeiten. Keine Beschwerden von den Kunden. Und Gerhardt kann ich nicht feuern, das ist der Cousin der Vorstandsassistentin. Das fällt negativ auf mich zurück. Blei ist noch keine vierzig. Der wird es schaffen, wenn ich ihn entlasse. Der findet schon wieder was. Arbeitslosigkeit ist doch gar kein Problem heutzutage. Ich sage nur Fachkräftemangel. Liest man immer wieder. Ich werde Blei feuern. Aber ich sage es ihm erst am Freitag.“
John Watts - Interference. https://www.youtube.com/watch?v=gtKwbv6_5Wo

6 Kommentare:

  1. (..Im Hinterkopf Rolf Miller ablaufen lassen....)
    Genau....so iss dess.

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  2. Tolle Parabel, die die Denk- und Handlungsweise der meisten Menschen exakt beschreibt.
    Chapeau!
    Gilt auch für den vorigen Text: "Wer kümmert sich um die Verlierer?"

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  3. Robert Altman, mit einer Prise Siegfried Lenz. Großes Kino, sehr schön!

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  4. Antworten
    1. Ich habe für ein paar Minuten über dein Leben nachgedacht, Alter! Aber so schlimm ist es nicht, in meiner Phantasie gibt es nur Himmel und Hölle - nächste Woche gibt es die Zombie-Serie zu diesem Thema :o)))

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