„Das Auge sieht ihn, doch keine Hand könnte ihn fassen, den im Strome sich spiegelnden Mond.“ (Bruce Lee)
Ich erwachte erst, als der Zug schon angehalten hatte.
„Endhaltestelle. Bitte alle aussteigen.“
Eine freundliche Stimme aus dem Lautsprecher. Ich sah mich im Wagen um. Niemand zu sehen. Aus der Ferne kam eine Schaffnerin langsam auf mich zu. Ihr Haar hatte die Farbe von Crème brûlée.
„Sind wir denn schon da?“, fragte ich sie müde.
„Wegen des großen Fests hält der Zug heute bereits hier.“
„Und wo sind wir?“
„Die Stadt heißt Talweg.“
Ich stand auf und verabschiedete mich. Draußen dämmerte es bereits.
Der Bahnhof war völlig leer. Ich ging durch die Eingangshalle und betrat den Vorplatz. Auch hier war niemand zu sehen. Ich ging weiter in die Innenstadt und befand mich kurz darauf in einem Labyrinth kleiner Gassen mit windschiefen alten Häusern. Ich sah ein Gasthaus und wollte die Tür öffnen, doch sie war verschlossen. Inzwischen war es dunkel geworden.
Dann hörte ich sie. Erst undeutlich, dann wurde der Lärm immer lauter. Eine Menschenmenge kam näher. Neugierig ging ich auf sie zu, da bogen die ersten Männer um die Ecke. Sie trugen Fackeln, Sensen und Knüppel. Ich konnte nicht verstehen, was sie brüllten, und drückte mich erschrocken in einen Hauseingang. Es waren Tausende, die an mir vorüberzogen. Und plötzlich öffneten sich über mir die Fenster, ich sah die Gesichter alter Menschen, die mit Holzlöffeln auf Kochtöpfe schlugen und die Menge anfeuerten.
Irgendwo in der Stadt erklang ein neues Brüllen, ein anderes Brüllen. Es klang anderes als das vielstimmige Brüllen der Menge. Die Menge klang wie ein Tier, aber dieses neue Brüllen klang nach einem einzigen Tier. Neugierig lief ich der Menge hinterher, die dem Klang des Tiers zu folgen schien.
Wir bogen um zwei Ecken und dann sah ich es. Ein riesiges schwarzes Monster, an die fünf Meter hoch. Es sah einem Stier ähnlich, hatte aber sechs Hörner. Als es die Menge näher kommen sah, drehte es den Kopf und stieß einen gewaltigen Schrei aus. Dann stürzte es sich auf die Menschen, die in wilder Flucht auseinanderstoben und sich gegenseitig über den Haufen rannten. Einige mutige Männer warfen ihre Speere auf den Stier oder schlugen mit ihren Knüppeln nach den Beinen des Ungetüms.
Als sich die Menge in den Seitengassen zerstreut hatte, lief das Tier davon. Die Männer mit ihren Fackeln und Waffen sammelten sich wieder und nahmen die Verfolgung auf. Wir liefen über den Marktplatz, wo sich die Menge teilte. In einer angrenzenden Geschäftsstraße umzingelte sie den Stier, indem sie von zwei Seitengassen und vom Marktplatz aus angriffen.
Das Monstrum brüllte und hob die Vorderhufe. Während ein Hagel von Speeren auf seinen Rücken niederprasselte, sprang es auf die Leiber der Angreifer. Es war ein langer blutiger Kampf, bis der Stier endlich im Staub der Straße lag. Mit Knüppeln schlugen die Männer auf das sterbende Tier ein. Blut spritzte und floss in Strömen in den Rinnstein.
Als der Stier endlich tot war, wurde er mit Äxten und Messern zerlegt. Die Männer hielten sich triumphierend dampfende Fetzen Fleisch über den Kopf und jubelten. Schließlich wurde mit Eisenstangen der Kopf des Tiers aufgebrochen. In seinem Inneren war ein goldener Pokal.
Der Jubel war grenzenlos, als ein Mann, der auf dem gigantischen Kopf stand, den Pokal in die Höhe hob. Ein freudiges Gebrüll erscholl unter den Jägern und verbreitete sich rasch über die ganze Stadt. Überall lachende Gesichter. Der Sieg.
Gang of Four - If I Could Keep It For Myself. https://www.youtube.com/watch?v=-9WRtY6G4Pg
Wenn ich meine Träume so aufgeschrieben lese, habe ich den zwingenden Eindruck von Wahrträumen.
AntwortenLöschenKlasse.
AntwortenLöschen