„Der Zufall ist allmächtich, Keule, vajiss dit nie.“ (Fil’s Didi & Stulle: Endstation Mars)
Als ich letzten Monat nach einer Party in Hamburg mit dem Zug nach Berlin gefahren bin, ist mir unterwegs die Geschichte wieder eingefallen. Zugegeben: Der Beginn ist mir heute sehr peinlich, aber ich will ehrlich sein und alles so schildern, wie es wirklich vorgefallen ist.
Ende der neunziger Jahre hatte auch mich ein wenig das Börsenfieber gepackt. Das mag daran gelegen haben, dass ich zu dieser Zeit beruflich viel mit Wirtschaftswissenschaftlern, Managern und Unternehmern zu tun hatte. Auch wenn ich vor Scham am liebsten in den Boden versinken würde: Es begann tatsächlich mit jener vermaledeiten T-Aktie, der „Volksaktie“, für die damals überall Reklame gemacht wurde. Ich ließ mir also bei meiner Berliner Sparkassenfiliale an der Bundesallee, Ecke Hohenzollerndamm, ein entsprechendes Wertpapierdepot einrichten und beantragte (wie lustig der Begriff heute klingt) die Zuteilung von 100 Aktien im Wert von 2850 DM, damals etwa ein halbes Monatsgehalt.
Der Börsengang der Telekom AG im Herbst 1996 kam – und ich ging leer aus. Ich hatte keine Aktien zugeteilt bekommen, da der IPO (solche Begriffe kannte ich plötzlich) mehrfach überzeichnet gewesen war. Zunächst war ich enttäuscht und wollte nie wieder etwas mit Aktien zu tun haben. Aber dann habe ich mich doch weiter mit dem Thema beschäftigt und landete alsbald wie viele junge Menschen am sogenannten Neuen Markt. Internet, Software, Biotechnologie, Windräder, Solarenergie – das war die Welt meiner Generation. Ursprünglich hatte ich mich gemeinsam mit einem Freund 1996 mit dem ersten deutschen Internet-Newsletter selbständig machen wollen, aber dann bekam ich das Angebot, als Wissenschaftler in einem Forschungsinstitut arbeiten zu können (ich musste noch nicht mal eine Bewerbung schreiben) und sagte zu. W., der Freund aus Mainzer Studentenzeiten, wagte den Schritt in die Selbständigkeit alleine und gab „Internet-Intern“ heraus (im Print!), später „intern.de“.
Und wenn man sich mit Aktien befasst und den ganzen Tag am Computer hockt, landet man auch irgendwann in einer entsprechenden Internet-Community. In meinem Fall war das „Wallstreet Online“. Dort trieb ich mich vorzugsweise im Bereich „Sofa“ herum, wo nicht nur über Aktien diskutiert wurde. Es war die Chillout-Zone, wenn man sich zum Thema Geldanlage ausreichend informiert hatte. Dort lernte ich alsbald Leute kennen und irgendwann beschlossen wir, uns einmal persönlich zu treffen. Es war in einer Cocktail-Bar irgendwo in Mitte und ich weiß nur noch, dass ich mindestens drei Zombies getrunken habe und mein Purpfeifchen eifrig die Runde machte. Ich war so blau, dass ich es gerade noch ins Taxi schaffte. Am nächsten Morgen ging ich wie in Trance in mein Büro, schloss die Tür hinter mir und bettete mein Haupt auf den Schreibtisch. Der Kollege, der mich zum Mittagessen abholte, weckte mich aus meinem Tiefschlaf.
Wir trafen uns wieder und eines Tages tauchten ein paar Hamburger Sofa-User bei uns auf. Wir gingen zusammen essen, eines Abends sogar mal in die „Bar jeder Vernunft“ bei mir um die Ecke, um uns eine Vorstellung anzusehen. Und dann lud uns einer der Hamburger zu seiner Geburtstagsparty nach Hamburg ein. Es waren an die hundert Leute in seiner Wohnung, Drag Queens und andere Leute aus der „Szene“ – und nach Mitternacht zog die ganze Meute noch über die Reeperbahn. Erst im Morgengrauen kamen wir in unsere Hotelzimmer. T., unser Gastgeber, arbeitete während der Woche bei einer Bank in Zürich. Freitags flog er abends nach Hamburg, um am Montagmorgen mit der ersten Maschine wieder in die Schweiz zu düsen. Er war eigentlich aus München, stockschwul, zwei Meter groß und mit einem „Matschauge“. Über Schwabing und Kreuzberg hatte es ihn nach St. Pauli verschlagen. Stolz berichtete er mir, er hätte in Berlin denselben Koksdealer wie Blixa Bargeld gehabt.
Ein Jahr später feierte T. wieder Geburtstag. Diesmal in einem ehemaligen Domina-Studio auf St. Pauli, dessen Einrichtung unverändert geblieben war. Eine Band spielte und muskulöse Jungs mit nacktem Oberkörper und schwarzer Fliege servierten die Drinks. T. und ich beschlossen in dieser Nacht, dass ich seine Biographie schreiben solle. Schwabing – Kreuzberg – St. Pauli. Sein Doppelleben als Banker wollte er in dem geplanten Buch gar nicht groß breittreten. Nur die ganzen lustigen Szene-Abenteuer. Ich war begeistert. Und weil ich seine Partys inzwischen kannte, hatte ich erst gar kein Hotelzimmer gebucht. Gegen sechs Uhr morgens verließ ich das Domina-Studio und ließ mich mit der Taxe zum Hamburger Hauptbahnhof fahren.
Es war Anfang Februar und eiskalt. Bis zum nächsten Zug nach Berlin musste ich noch eine Stunde warten. Direkt vor mir stand ein ICE. Warm. Verlockend. Und mit der Logik, die nur Betrunkenen und Wahnsinnigen eigen ist, stieg ich in den Zug, um mich ein wenig aufzuwärmen. Als ich aufwachte, hielt der Zug gerade an. Ich war verwirrt. Schnell stieg ich aus. Hamburg-Altona. Der Zug fuhr weiter. Nach Kopenhagen und zum Glück ohne mich. Dann saß ich endlich im richtigen Zug nach Berlin und schlief natürlich gleich wieder ein. Als ich zum zweiten Mal an diesem Morgen erwachte, war es heller Tag. Draußen vor dem Fenster flog die Landschaft vorüber. Wo war ich? Es konnte überall sein. Landschaft eben. Ich saß in einem Eurocity, wie ich einem Faltblatt entnehmen konnte. Berlin – Prag – Wien. In welchem Land war ich? Was würde der nächste Bahnhof sein? Noch nie bin ich mit größerer Neugier aus dem Schlaf erwacht als an diesem Tag.
Ich hatte Glück. Der Zug hielt in Berlin, erst in Spandau und damals auch noch am Bahnhof Zoo, und ich konnte ganz entspannt zu Fuß nach Hause gehen. T. habe ich leider nie wieder gesehen. Das Buch ist, wie so viele, nie über das Projekt-Stadium hinausgekommen.
P.S.: Ich habe mal bei „Wallstreet Online“ nach seinem Profil gesucht – er ist auch heute noch aktiv! Er bezeichnet sich dort als „letzte lebende Diva“ und sucht „Traummänner“. Scheint ihm also noch gut zu gehen. Aber er war schon immer ein Typ wie Ozzy Osbourne … Und den Party-Thread habe ich auch wieder gefunden. „IHM GEHÖRT DER KIEZ.... und manchmal, in winzig kleinen momenten auf seinen parties, dann sehe ich ihn an... ganz heimlich... von der seite... und ich glaube, in diesen speziellen momenten, ja da gehört ihm die ganze welt...“, schrieb eine gemeinsame Bekannte damals. Die Party war übrigens am 31.1.2003, das Netz vergisst nichts (btw: der Mann wurde exakt am gleichen Tag geboren wie meine Schwester). T. feierte an diesem Wochenende von Freitag bis Montag durch. Damals hatten wir das Geld, das wir in den Neunzigern an der Börse gemacht hatten, schon längst wieder verloren. Trotzdem kamen immerhin 3424 Euro Spendengeld zusammen (statt Geschenken). „Ich bin um 7 Uhr mit dem Zug nach Berlin zurück und konnte noch rechtzeitig aufwachen - sonst wäre ich nach Wien durchgerollt“, heißt es in einem meiner Thread-Beiträge als „Swamp Thing“ lapidar.
„Alta, dit is do‘ www.schneevonvorjestahn.de“ (Fil’s Didi & Stulle: Endstation Mars)
The Ramones - I Wanna Be Sedated. https://www.youtube.com/watch?v=JBN1CkyRzmE
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