„Slama steht da, mit gesenkten Augen und ratlosen Händen, die auf einmal leer geworden sind, als hätten sie bis zu diesem Augenblick etwas gehalten und soeben fallen gelassen und für immer verloren.“ (Joseph Roth: Radetzkymarsch)
Sie wusste von Anfang an, dass es schwer werden würde. Der Junge war nicht nur mit seiner Mutter erschienen, sondern mit dem Bürgermeister. In einem Dorf macht der Bürgermeister alles. Sie sprachen Englisch miteinander, aber sie spürte, dass die Frau nicht alles verstand. Der Junge verstand kein Englisch, die Mutter erklärte ihm alles auf Arabisch. Die ersten Wochen werden schwierig, dachte sie. Aber er macht den Deutsch-Kurs an der Volkshochschule. Es wird von Tag zu Tag besser werden und in ein paar Monaten kann er unsere Sprache. Nicht perfekt, aber gut genug. Er wird von den anderen Kindern viele Worte aufschnappen, es gibt das Fernsehen und das Internet. Kinder in diesem Alter lernen sehr schnell.
Vier Wochen später stellte sie den neuen Schüler vor. Die 4a. Ihre Klasse. Sie kannte die Kinder schon seit ihrer Einschulung.
„Das ist Kemal“, sagte sie.
Der Junge schaute scheu zu Boden. Die ganze Klasse glotzte ihn stumm an.
„Kamel“, schrie der dicke Jonas, der Sohn des Schreinermeisters, und das Gelächter von zwanzig Kindern entlud sich über Kemal wie ein Gewitter.
„Ruhe!“ rief die Lehrerin streng. „Kemal ist aus Aleppo. Das ist in Syrien. Er ist mit seiner Familie vor dem Krieg geflüchtet und lebt jetzt bei uns im Dorf.“
„Aleppo“, wiederholten einige Kinder leise und kicherten. „Aleppo-Popo.“
„Kemal“, sagte die Lehrerin mit sanfter Stimme. „Dort hinten ist noch ein freier Tisch. Da kannst du sitzen.“
Er verstand nicht gleich und sah sie nur stumm an.
„Do you understand? Sit down, please.“ Sie führte ihn zu seinem Platz.
Die Blicke der Kinder folgten ihm. Er hatte noch nicht einmal einen Ranzen, sondern nur einen Stoffbeutel bei sich. Er trug Jeans, ein zu großes Sweat-Shirt und No-Name-Turnschuhe.
Er setzte sich allein an den Tisch in der letzten Reihe. Die Lehrerin ging wieder nach vorne an die Tafel und begann mit dem Unterricht. Kemal sollte nur zuhören, sie würde in den ersten Wochen nichts von ihm verlangen. Es war für ihn schwer genug. Vielleicht könnte er in ein paar Wochen vor der Klasse etwas von seiner Heimat erzählen. Aber sie durfte nichts überstürzen. Geduld, sagte sie sich. Es wird sich alles entwickeln. Kinder in diesem Alter lernen sehr schnell.
In der großen Pause stand Kemal allein am Rand des Schulhofs. Die Mädchen standen zusammen und redeten. Sie beachteten ihn so wenig wie die anderen Jungs. Die Jungs spielten zusammen und versuchten, die Mädchen zu ärgern oder mit derben Kraftausdrücken zu beeindrucken. Alle aßen ihre Brote und Apfelstückchen aus ihren Plastikboxen, nur Kemal aß nichts. Er schaute auf den Boden und wartete, bis die Pause zu Ende war.
Nach der letzten Stunde packte er sein Mäppchen und sein Heft in den Stoffbeutel und ging nach Hause.
Hinter ihm gingen der dicke Jonas und zwei Klassenkameraden.
Einer hob eine Kastanie auf und warf sie nach Kemal. Sie traf ihn am Rücken.
Der Junge ging einfach weiter.
Da hob auch Jonas eine Kastanie auf und warf sie nach dem Jungen.
Er traf ihn am Bein. Der Junge drehte sich um.
„Na, du Kamel“, sagte Jonas, und er lachte mit seinen Freunden.
Kemal ging auf ihn zu, ohne ein Wort zu erwidern, und schlug ihm ins Gesicht.
Jonas schrie auf. Blut lief ihm aus der Nase.
Dann ging Kemal nach Hause.
Am Nachmittag rief der Bürgermeister bei der Lehrerin an und berichtete ihr alles. Die Polizei sei dagewesen. Man wäre im Dorf ja tolerant. Aber es gäbe Grenzen. Die Eltern von Jonas seien empört. Mit so einem Gewalttäter wolle man das eigene Kind nicht in die Schule gehen lassen.
Andere Eltern schalteten sich ein. So ginge das nicht weiter. Man lasse sich die nette Dorfschule nicht von Flüchtlingen kaputt machen. Erst im vergangenen Sommer habe man das Schulgebäude auf eigene Kosten und mit viel eigener Arbeit neu gestrichen und die Klassenräume verschönert. Solle denn alles umsonst sein?
Kemal durfte nicht mehr an die Schule zurückkehren. Man bemühte sich um eine Unterbringung der Familie in der nahe gelegenen Stadt.
Der Junge lernte seine neue Heimat sehr schnell kennen.
Arcade Fire - Half light I. https://www.youtube.com/watch?v=0J_XT_nfTUw
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