Mittwoch, 22. Juli 2015

Sapori italiani

„In den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts teilte sich die Bevölkerung meiner Vaterstadt in zwei Gruppen: Es gab nur sehr Reiche und sehr Arme. Man könnte ebenso gut sagen: Herren und Diener. Denn die Armen schien der liebe Herrgott, der es allezeit mit den Reichen hält, nur zu dem Zwecke geschaffen zu haben, um den Reichen das Leben zu erleichtern.“ (Joseph Roth: Von dem Orte, von dem ich jetzt …)
Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal in Reinickendorf gewesen bin. Und selbst wenn ich zufällig an diesem unscheinbaren Lokal vorbeigekommen wäre, hätte ich es sicher übersehen. Selbst an diesem Tag, an dem mich die Empfehlung des Kiezneurotikers, dem ich für diese Entdeckung zu großem Dank verpflichtet bin, an diesen Ort führt, laufe ich zunächst an dem „Imbiss“, wie man sich selbst bescheiden nennt, achtlos vorüber und muss kurz darauf umkehren.
 Im „Sapori italiani“ gibt es nur eine Handvoll Tische, keine Theke oder aufwändigen Wandschmuck. Aber einen netten Kellner, der mir nicht nur die Speisekarte bringt, sondern auch die Tagesangebote erläutert. Ich entscheide mich für ein mir völlig unbekanntes Nudelgericht (Passatelli) und werde gleich drauf mit einem kleinen Gruß aus der Küche über den ersten Hunger hinweg getröstet. Das Essen ist köstlich und ich komme mit dem Kellner ins Gespräch. Riccardo, der Kellner, und Roberto, der Koch, kommen aus der Emilia-Romagna. Die Rezepte sind aus ihrer Heimat, ebenso der Wein. Pizza gibt es nicht, dafür frische Nudeln, Ente und Schweinebraten. Roberto hat es über Moskau, Stuttgart und England nach Berlin geführt.
Ich nehme noch eine Portion Gnocchi all’antara (mit Enten-Ragù) für den Abend mit nach Hause. Der Kellner bespricht vorher mit dem Koch, welche Gerichte man aufwärmen kann und welche nicht. Sehr aufmerksam, wie überhaupt alles mit viel Liebe gemacht wird (Blumen auf der Toilette – das gibt’s ja nicht mal in großen Restaurants). Am Ende verrate ich ihm noch, wer mir den Tipp gegeben hat. Den Namen „Kiezneurotiker“ hat er noch nie gehört, weist mich aber ganz entspannt auf die nahegelegene Nervenheilanstalt hin. Zum Abschied fragt er mich, wann ich wieder komme. Schon sehr bald, antworte ich. Dieses Lokal kann man wirklich empfehlen. „Sapori italiani“ heißt auf Deutsch übrigens italienische Geschmäcker. Man möchte dieses herzergreifend zerbrechliche Bonsai-Lokal mit dem guten Dutzend warmer Speisen am liebsten in den Arm nehmen und vor der Welt beschützen.
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Die Heimreise auf die andere Seite des West-Berliner Äquators (vulgo: Ku’damm) führt mich durch den Wedding und Moabit. Unbezahlbare Gesprächsfetzen in der U 9. Eine Frau erzählt ihrem Kollegen, sie hätte sieben Jahre als „Filzdesignerin“ gearbeitet. „Sisda, Lis’ning!“ Ihr Sohn würde diesen Sommer in der Schule sitzenbleiben, was aber nichts mache, da er ganz toll jonglieren, zaubern und Einrad fahren könne und später sowieso mal Berufsakrobat werden würde. Rechts neben mir sitzt eine Afrikanerin und ruft die ganze Zeit „Sisda, Lis’ning!“ in ihr Handy, dann hört man eine Frau in einer fremden Sprache keifen und meine Nachbarin keift in derselben Sprache zurück. Gegenüber erklärt ein zwölfjähriger Junge seiner Mitschülerin, er wolle einmal Türsteher werden und was zu diesem ehrenwerten Beruf alles dazugehört. Dit is Berlin. „Sisda, Lis’ning!“ Bei mir im Westen wollen alle nur BWL und Maschinenbau studieren.
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Ich laufe den Eichborndamm entlang. Hier gehen die kleinen Mietskasernen allmählich in Vororthäuser über. Manche Ecken wirken sympathisch, andere abschreckend (Haus Nr. 7 ist das hässlichste Gebäude Berlins). Jugendliche rufen ausgelassen „Kalaschnikow“, „Atombombe“ und „Keiner darf überleben“. Keine Ahnung, ob es um Fußball, die aktuellen Nachrichten oder ein Computerspiel geht.
Bei meinem zweiten Besuch im „Sapori italiani“ (Haus Nr. 80) sitzen bereits acht Gäste in dem kleinen Bistro. Das freut mich. Ich bestelle Tagliatelle al ragù, eiskalten Prosecco und zum Nachtisch das beste Tiramisu meines Lebens. Augenblicklich werde ich unheilbar mascarponeabhängig, im Gespräch berichtet der Kellner aus eigener Erfahrung von den gleichen Symptomen der Sucht nach der hausgemachten Creme aus Frischkäse, Ei und Zucker.
Die Laudatio des Kiezneurotikers und die Kommentare hat er inzwischen gelesen und sich sehr gefreut. Ich verspreche ihm einen Text in meinem Blog und grüße an dieser Stelle ganz herzlich das gastfreundliche Duo in Reinickendorf. Per Handschlag verabschieden wir uns. Bei meiner nächsten Berlin-Reise im Herbst werde ich wieder hier sein.
https://www.facebook.com/saporitalianiberlin
P.S.: Wenn Essen und Trinken olympische Disziplinen wären, könnte man meine drei Wochen Berlin unter der Rubrik „Sporturlaub“ verbuchen.
Alice - Per Elisa. https://www.youtube.com/watch?v=Yv3wl1uadXI

7 Kommentare:

  1. Lustig, das Lokal hat es nach einer fetten Runde über Twitter in den Tagesspiegel geschafft: https://pbs.twimg.com/media/CKc-l2fWcAA4wmb.jpg:large

    Schafft ein, zwei, viele Hypes! :)

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    1. ... also zumindest in den Newsletter des Tagesspiegels. Und hey, Bonnies Ranch ist ein guter Tipp. Da war ich noch nicht. :)

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    2. Du solltest doch Geld für deine Restaurant-Tipps nehmen. Schließlich sind sie ja für die Restaurants offensichtlich auch bares Geld wert ;o)))

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    3. Nix da. Ich bin die derbste Bitch der Stadt, ich mach's für umme. :)

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  2. Ah, zugemacht hatter. Später als ich dachte. Immerhin.

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    1. Vielleicht hat er sich auch upgegradet und taucht demnächst in deiner Nachbarschaft auf?

      Vermutlich hast du die Lebenszeit des Lokals mit deiner Besprechung um einige Monate verlängert ...

      Frikandel und holländische Frittesous habe ich hier in Schweppenhausen übrigens auch, auf dem Campingplatz am Ortsrand (der ehemalige Puff wurde umgebaut) regieren jetzt die Freunde aus dem Flachland mit der komischen Aussprache. Die frittierte Bami Goreng-Schnitte ist der Hit!

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