Dienstag, 13. Januar 2015
Der lachende Detektiv
Ding-Dong. Ding-Dong. Das war das Zeichen für Frau Wagner. Die Kollegin Yilmaz von Kasse 1 hatte zweimal geklingelt. Sie musste die zweite Kasse aufmachen, es standen zu viele Kunden in der Schlange. Behutsam legte sie das angebissene Brot zurück in die Aluminiumfolie und faltete sie zusammen. Graubrot mit Scheibletten. Nichts Besonderes, aber MHD-Ware, die kurz vor dem Erreichen des Verfallsdatums war, gab es immer zu einem Viertel des VK für die Angestellten. Mindesthaltbarkeitsdatum, Verkaufspreis.
„Du hast es gut, Herr Barbarino“, sagte sie zu ihm. „Du kannst wenigstens in Ruhe deine Pause zu Ende machen.“
Dann verließ sie das spiegelverglaste Kabuff neben den Kassen des JUMBO-Supermarkts. An ihrer Kasse warteten schon ungeduldig die Kunden und durchbohrten sie mit hasserfüllten Blicken.
Vinnie Barbarino sah sich die Szene durch die verspiegelte Scheibe an. Er hasste es, dass sich die Angestellten zwar duzen konnten, sich dabei aber dennoch mit Nachnamen ansprechen mussten. Welcher Sozialkrüppel gab solche Dienstanweisungen raus? Und welches perverse Schwein war auf die Idee mit den verspiegelten Scheiben des Sozialraums gekommen? Und warum war dieser Raum mitten im Laden, wo man die Kollegin beobachten konnte, die sich gerade alleine abmühte, damit die andere ihre Pause machen konnte? Er hasste JUMBO und er hasste seinen Job.
Barbarino stand auf und schlenderte ins Lager hinüber. Es war ein Witz, dass in diesem riesigen Supermarkt nur zwei Frauen arbeiteten. Da nutzten auch die nagelneuen Überwachungskameras nichts und die großen Spiegel in den beiden hinteren Ecken des Flachbaus. Sie hatten keine Zeit, die Kunden zwischen den Regalen zu kontrollieren. Es diente nur der Abschreckung der Ladendiebe – inklusive der lächerlichen Aufkleber an der Eingangstür: „Diese Filiale ist kameraüberwacht“ und „Jeder Diebstahl wird zur Anzeige gebracht“. Von wem denn? Barbarino war der Ladendetektiv und er hatte überhaupt keine Lust auf irgendeinen Stress mit Kleinstkriminellen.
Inzwischen war er vor dem Regal mit den Spirituosen angekommen. Die feinen Sachen wie schottischer Single Malt Whisky standen leider in einem Glasschrank, den man sich von einer der Kassiererinnen aufschließen lassen musste. Aber der Bourbon war auch nicht übel. Er nahm einen ganzen Karton aus dem Regal und verließ das Lager durch das Tor zum Hinterhof. Die staubige Asphaltfläche war menschenleer. Erst nach Einbruch der Dunkelheit würden die Armen kommen, um in den Müllcontainern nach Essbarem zu suchen. Er legte den Karton in den Kofferraum seines Wagens und ging zurück in den Supermarkt.
Er griff sich ein Päckchen Nudeln und eine Tafel Schokolade, dann spazierte er gemächlich durch die langen Gänge zwischen den Regalen. Natürlich, dachte Barbarino, wieder die alte Frau mit dem dunkelblauen Regenmantel. Er hätte ihr am liebsten Nachhilfeunterricht erteilt. Sie blickte sich so auffällig nach links und rechts um, als wäre sie ein Zirkusclown, der einen Ladendieb imitiert. Dann öffnete sie vorsichtig ein Netz mit Kartoffeln und ließ ein paar Knollen in den Seitentaschen ihres Mantels verschwinden. Ware für ein paar Cent. Wie blöd kann man sein? Für ein paar Kartoffeln riskiert man die ganzen Unannehmlichkeiten einer Strafanzeige, dachte Barbarino kopfschüttelnd. Aber natürlich würde er sie auch diesmal in Frieden lassen. Schließlich hatte er eine Mutter, die im gleichen Alter wie diese Frau war.
Barbarino war ein guter Ladendetektiv. Ihm entging nichts. Die Kinder, die sich Süßigkeiten in die endlosen Weiten ihres Arschgehänges namens Hose stopften. Die Alkis, die sinnloserweise immer den schlechtesten Weinbrand oder Doppelkorn klauten. Er hätte gerne mal mit ihnen geredet. Wenn ihr schon klaut, hätte er ihnen eingetrichtert, dann nehmt wenigstens einen guten Cognac. Davon bekommt man auch nicht solche Kopfschmerzen wie von dem Billigfusel. Dann gab es die gelangweilten Hausfrauen, die einfach den Adrenalinkick suchten. Sie kauften für dreißig Euro Markenprodukte und steckten sich einen Deostift für 1,99 in die Hosentasche. Und es gab natürlich die Kleptomanen, die man daran erkannte, dass sie eine Weile ziellos durch den Markt schlenderten, um sich in Stimmung zu bringen. Und wenn sie dann ein paar Sachen in ihre auffällig weite Jacke mit den tausend winzigen Taschen gesteckt hatten, liefen sie mit ratlosen Gesichtern die Gänge auf und ab, weil ihnen nicht einfiel, welchen Alibikauf sie jetzt machen sollten, da sie doch schon alles hatten, was sie aus dem Supermarkt brauchten. Die größten Idioten unter ihnen waren eine halbe Stunde im JUMBO, um dann mit einem selten dämlichen Grinsen ein Päckchen Kaugummi zu kaufen, das es direkt an der Kasse gab.
Sie alle hätte Barbarino problemlos schnappen und von einer Streifenwagenbesatzung abholen lassen können. Aber er hatte keine Lust. Es war ihm zu blöd. Es war eine Mischung aus Mitleid mit den Kunden, Faulheit und Hass auf seinen Arbeitgeber. Aber gelegentlich musste er natürlich einen Erfolg nachweisen. Schließlich wurde bei JUMBO ja auch eine Menge geklaut. Von den Kunden und von ihm selbst. Genau deswegen hatte man ihn schließlich eingestellt. Also inszenierte er alle zwei Monate eine spektakuläre Festnahme. Er zahlte einem Obdachlosen fünfhundert Euro, der das Spiel mitspielte. Dafür musste er mit seinem Diebesgut aus dem Laden auf die Straße rennen, wo er sich mit Barbarino eine herzergreifende Verfolgungsjagd zu liefern hatte. Damit schaffte es der Ladendetektiv sogar gelegentlich in die Zeitung. Der Obdachlose sah der Anzeige wegen Diebstahls gelassen entgegen. Wenn es hoch kam, musste er für kurze Zeit in den Knast, wo er ein Dach über dem Kopf und geregelte Mahlzeiten hatte. Und Barbarino hatten seinen Erfolg. Die JUMBO GmbH war über die Zeitungsartikel, die ihren unbarmherzigen Kampf gegen das Verbrechen schilderten, natürlich hoch erfreut. Gute Publicity für kleines Geld. Eigentlich gab es nur Gewinner.
P.S.: „Mit der Figur eines Detektivs oder eines anderen Ermittlers in einem Kriminalfall schafft sich der Schriftsteller eine einfache Möglichkeit, seinen Protagonisten auf die Suche nach der Wahrheit zu schicken. Es ist der banalste Weg, diese uralte Sehnsucht des Lesers zu befriedigen.“ (Andy Bonetti)
Fehlfarben - Rhein in Flammen. https://www.youtube.com/watch?v=AQcyAIqnMzg
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen