Dienstag, 20. Januar 2015
Harlan A. Levey
Was wären Menschen wie ich, die gleichzeitig faul und neugierig sind, ohne das Internet? Eine Erinnerung, eine Visitenkarte und ein Notizbuch. Dann werfe ich die Suchmaschine an, der alte Motor stottert, es qualmt – und dann verzieht sich der süße Duft von kalifornischem Gras und ich sehe alles wieder ganz klar vor mir.
Er lebt inzwischen in Santa Cruz, „Surf City USA“. Und hier ist er in seiner ganzen Datenpracht zu sehen. Das Beste: Als Rasse wird „Hawaiianer“ angegeben. Der Haftbefehl von 2012:
http://sccounty01.co.santa-cruz.ca.us/SHF/SearchWarrants/Detailsview.aspx?warrantid=417931&lastname=l
Angeklagt wegen Hausfriedensbruch (California Penal Code Section 602.5). Darauf steht bis zu einem Jahr Knast. Und er ist gar nicht erst zu seiner Verhandlung erschienen (California Penal Code Section 853.7).
Es war im Sommer 1993 und wir rollten gegen Abend in Cambria ein. Route 1, Kalifornien. C. und ich kauften ein paar Flaschen Wein und checkten im billigsten Motel ein, das wir finden konnten. Der Korken der ersten Flasche ließ sich mit dem Daumen nicht eindrücken. Ich durchsuchte meine Jeansjacke nach einem geeigneten Werkzeug und fand den Schlüssel unseres Mietwagens. Beim Versuch, diesen steinharten Korken zu knacken, brach der Schlüssel ab. Der erste Tag meines Lebens in einem Mietwagen, meine erste Fernreise. Ich fluchte wie ein Sizilianer. Wir würden in dem Kaff hängen bleiben – und nüchtern waren wir auch noch!
Während ich in Schwermut und Agonie verfiel, ging C. zur Managerin des Motels, einer einarmigen Frau um die Vierzig. Sie lieh sich einen Korkenzieher und bekam auch noch die Telefonnummer des ortsansässigen „Locksmith“. Der Abend war gerettet, wir betranken uns auf dem Kingsize-Bett und am nächsten Morgen kam der Schlosser. Kostete gerade mal 3,50 Dollar. Zur Feier des Tages gingen wir in ein Restaurant, um unsere Weiterreise nach Süden mit einem opulenten Frühstück zu beginnen. Der Kellner hatte einen edlen Anzug an und war sehr freundlich. Er war braungebrannt und hatte schulterlange Haare. Wir kamen ins Gespräch und irgendwann sagte er uns, um zwölf Uhr hätte er Feierabend. Ob wir nicht Lust hätten, mit zu ihm zu kommen. Er sei eigentlich Musiker. Wir hatten ohnehin keinen Plan – außer dass wir am Ende der fünfwöchigen Reise in New York ein Flugzeug erwischen mussten – und warteten nach dem Frühstück noch eine Viertelstunde, bis sein Arbeitstag beendet war.
Als wir ihn auf dem Parkplatz trafen, hätten wir ihn fast nicht wiedererkannt. Er trug ein Batik-Shirt, abgeschnittene Jeans und Turnschuhe. Er ging zu einem VW Käfer, der aus einer Million bunter Farbtupfer bestand, und bat uns, ihm zu folgen. Ein paar Minuten später waren wir in seinem winzigen Haus, das er sich mit ein paar anderen Jungs teilte. Sein Zimmer bestand aus einem kompletten Tonstudio. Er nahm eigene Stücke auf und produzierte Jingles für die örtlichen Radiosender. Erst vor einem halben Jahr hatte man ihm die komplette Anlage geklaut, jetzt jobbte er als Kellner, um seine Schulden für das neue Equipment abzustottern. Wir tranken den ganzen Nachmittag Eistee und rauchten Gras, während er uns seine Musik vorspielte und Geschichten erzählte. Seine Visitenkarte habe ich bis heute: Harlan Andrew Levey, True Light Productions.
Als ich wieder in Berlin war, rief ich ihn an. Wir telefonierten regelmäßig und schrieben uns Briefe. Wenn morgens um sechs Uhr das Telefon klingelte, wusste ich genau, dass es Harlan war. Er schickte mir Videokassetten mit Musik, die den Titel „Surfbeat“ trugen. Zu Harlans Punkrock waren er und seine Freunde beim Surfen oder Snowboarden zu sehen. Die Tapes waren phantastisch! Da ich zu diesem Zeitpunkt bei FAB („Fernsehen aus Berlin“), ganz in der Nähe meiner Wohnung in einem Hinterhof an der Nollendorfstraße, als freier Mitarbeiter jobbte, sollte ich das Material bei irgendeinem Fernsehsender unterbringen. Ich hatte die europaweiten Exklusivrechte für True Light Productions, ich stand kurz vor meinem ganz großen Durchbruch. Echt, Mann! Aber leider wollte niemand die Bänder kaufen. Irgendwann schlief der Kontakt zu Harlan ein.
Vor zehn Jahren habe ich mal im Netz nach ihm Ausschau gehalten. Da hat er als Musiklehrer an einer kalifornischen Grundschule gearbeitet. Keiner von uns hat Karriere gemacht, aber jeder ist seinem Traum treu geblieben. Er macht Musik, ich schreibe. Heute, am 20. Januar 2015, wird dieser Mann fünfzig Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch, Harlan!
Wir hören den “King of the Surf Guitar”: Dick Dale & The Del Tones – Misirlou. https://www.youtube.com/watch?v=ZIU0RMV_II8
Die Pulp-Fiction-Version: https://www.youtube.com/watch?v=dld8MmLbjQg
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