Montag, 28. November 2022

Der erste Tag

 

Maximilian Grube arbeitete als Life Coach und hatte sich auf die Resozialisierung von Berufspolitikern spezialisiert. Er saß in seinem alten Opel Astra, den er für diesen Zweck angeschafft hatte, und wartete vor dem Wirtschaftsministerium auf Hubertus Nothnagel, seinen neuen Kunden.

Es klopfte an die Scheibe der Beifahrertür. Grube sah ein freundliches rundes Gesicht mit Halbglatze und Hornbrille. Er nickte ihm zu. Nothnagel ging zur hinteren Fahrzeugtür und öffnete sie.

„Nein, nein, mein lieber Herr Staatssekretär. Sie haben keinen Dienstwagen mehr und ich bin nicht ihr Chauffeur. Setzen Sie sich bitte auf den Beifahrersitz.“

Nothnagel schloss die Tür und setzte sich neben Grube.

„Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Herr Grube. Schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen. Wie ist das werte Befinden?“

„Diese geschwollene Sprache müssen Sie sich abgewöhnen“, antwortete Grube. „Wir werden täglich Übungen in Alltagssprache machen. Brötchen heißt Schrippe, Flasche heißt Pulle und Auto heißt Karre.“

Nothnagel lächelte schüchtern. „Und was ist das für eine antiquierte Karre, wenn ich fragen darf?“

Grube fuhr los. „Das ist ein Opel. So was fahren normale Leute. Haben Sie einen Führerschein?“

„Ja, aber ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr gefahren.“

„Ab jetzt fahren wir jeden Tag auf einem Verkehrsübungsplatz. Ihre Integration in die Gesellschaft wird mindestens drei Monate dauern. Ich werde Sie dabei in allen Aspekten unterstützen.“

Grube wusste, dass ihm eine schwere Aufgabe bevorstand. Je länger ein Politiker dem Alltag entwöhnt war, desto schwieriger wurde es. Sein Beruf war mit dem eines Bewährungshelfers vergleichbar. Kommt ein Ganove nach fünfzehn Jahren aus dem Knast, kann er ohne Unterstützung von anderen schnell überfordert sein. Zum Glück brauchen Berufspolitiker, im Gegensatz zu ehemaligen Sträflingen, keine neue Wohnung und keinen Arbeitsplatz.

Grube bog von der Straße auf einen großen Parkplatz ab.

„Wo sind wir hier?“ fragte Nothnagel.

„Das ist ein sogenannter Supermarkt. Hier kann man Lebensmittel kaufen.“

„Davon habe ich schon gehört.“

„Als erstes brauchen wir einen Einkaufswagen.“

Grube führte Nothnagel zu einer Schlange ineinandergeschobener Wagen.

„Haben Sie einen Euro?“

„Nein“, antwortete Nothnagel. „Ich fürchte, damit kann ich nicht dienen.“

„Ab jetzt werden Sie immer Bargeld bei sich haben. In einer Brieftasche. Die besorgen wir später. Heute machen wir einen Testkauf. Wir kaufen ein paar wesentliche Dinge wie Butter und Brot. Die bringen wir anschließend zu Ihnen nach Hause.“

Der erste Tag ist immer der härteste, dachte Grube. Sein erster Klient wäre fast an einer Fußgängerampel überfahren worden, weil er den Unterschied von Rot und Grün nicht gekannt hatte.   

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