Samstag, 24. Oktober 2020

Kleinstadtabenteuer


Unser Summer of Love war irgendwann in den siebziger Jahren. Die Luft vibrierte. Nachts trieben wir uns gerne am Bahnhof herum und saßen im fahlen Licht einer Laterne auf einer Bank. Drei Jungs, drei Mädchen. Wir Jungs saßen am liebsten auf der Lehne der Bank, weil das cool aussah. Manchmal saßen wir auch vor der Post, die längst abgerissen ist. Eine niedrige Mauer, dahinter ein Stück Rasen, auf das man sich legen konnte.

Christian war der Intellektuelle. Er hatte Jack Kerouac gelesen. Zumindest sagte er das. Ein schmächtiger, unscheinbarer Bursche. Dann Uwe. Der Revoluzzer. Man durfte ihn nicht fotografieren, damit die Polizei keine Fahndungsfotos hätte. Ein blonder Strahlemann, der geborene Anführer. Und ich. Undefiniert. Ich las gerne MAD und war im Fußballverein.

Kerstin war ein kleines, schüchternes Mädchen. Wir hatten uns mal geküsst, als wir allein waren. Sie hatte einen tollen Mund. Volle Lippen und schöne Zähne wie aus der Werbung. Aber wenn wir mit den anderen zusammen waren, ließen wir uns natürlich nichts anmerken. Dann Anke mit den hautengen Jeans. Als ich ihr im Klassenzimmer mal ein Stück Kreide auf den Hintern geworfen habe, gab es eine Art Überschallknall. Der Inbegriff von Knackarsch.

Petra hatte als einzige von den drei Mädchen einen sichtbaren Busen. Sie war üppig gebaut. Sie wohnte im selben Stadtteil wie ich. Als wir mal nachts zusammen nach Hause gegangen sind, habe ich eine Weile ihre Hand gehalten und sie hat es zugelassen. Beinahe hätte ich ihr einen dieser sagenumwobenen Zettel mit dem berühmten Text „Willst du mit mir gehen? Ja – Nein – Vielleicht“ geschrieben, habe es aber zum Glück gelassen. Die Jungs erzählten sich, dass noch nie ein Mädchen Ja angekreuzt hat, aber mit Vielleicht wäre man praktisch am Ziel.

Eigentlich war ich in alle drei verknallt. Aber nur ein bisschen. Außerdem war ich ohnehin zu schüchtern. Bis zu meiner ersten richtigen Freundin sollten noch Jahre vergehen, aber das wusste ich damals noch nicht.

Hexennacht. Wir hatten ein paar Flaschen Wein in einer Aldi-Tüte dabei. Die Bahnhofsgegend war völlig verlassen. Der letzte Zug war durchgefahren, die Kneipe längst zu. Wir kletterten über den Gitterzaun und setzten uns auf die Bank am Gleis 1. Christian erzählte, wohin er später mal reisen würde. Mit dem Auto quer durch Amerika. Und Australien. Uwe erzählte was vom Untergrund. Er wollte nach Berlin. In Kreuzberg würde man die richtigen Leute treffen. Die Weinflasche kreiste. Wir Jungs rauchten wie echte Kerle.

„Was machen Sie da?“ Die dunkle Stimme eines älteren Mannes durchschnitt die Nacht. Wir konnten ihn erst nicht sehen, denn er stand im Dunkeln vor dem Bahnhofsgebäude.

„Geht dich einen Scheiß an“, rief Uwe.

„Verschwinden Sie! Aber sofort!“ Der Mann klang ziemlich wütend.

„Ruf doch die Bullen“, antwortete Uwe.

Wir rannten zum Gitterzaun und Christian kletterte schon hinüber, als ich sah, dass in der Mitte eine Tür war. Ich drückte die Klinke runter. Sie war tatsächlich offen. Wir gingen zur Post und legten uns auf den Rasen. Heiliger Scheißdreck! Wir lachten und fühlten uns großartig. 

Elise LeGrow - Who Do You Love. https://www.youtube.com/watch?v=4BYzRmiBwRE

10 Kommentare:

  1. "Früher war alles besser!"

    Aber mal ehrlich, ich persönlich empfinde es als großes Glück nicht mit Handy, Smartphone, Computer u.dgl. aufgewachsen zu sein.

    Fred

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  2. "Ich las gerne Mad und war im Fußballverein." Kommt mir bekannt vor. Und der Knackarschkreideknall.

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    1. Wir haben noch wochenlang von diesem Knall gesprochen wie von einer Marienerscheinung. Wunderwelt Knackarsch.

      Vor zehn Jahren habe ich sie mal wieder getroffen. Abendessen bei einem gemeinsamen Freund. Zwischendurch war sie mit einem Amerikaner verheiratet, lebte in den USA, ist Mutter geworden und nach der Scheidung wieder in der alten Heimat.

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    2. Hüte Dich vor Knackarschfrauen
      und Autos, die die Russen bauen.

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    3. Die wichtigste Frage ist doch: Wie ist ihr Arsch heute?
      Mann, mann, mann Bonetti, wo bleibt denn die Recherche?

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    4. Das wüsstest du wohl gerne. Ich weiß es. Knick Knack ;o)

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  3. Die Kinder in den Grunschulklassen können nicht mal mehr richtig rennen.
    Wir mußten damals, mit 7-10 Jahren, ständig irgendwie vor den Erwachsenen flüchten, weil wir ständig irgend einen Scheiß gebaut haben. Da hieß es rennen, sei es auch nur aus einer unerfindlichen Furcht vor irgend einem auftauchenden Erwachsenen.
    Weil Erwachsene, wildfremde Menschen, waren durchaus in der Lage, kurz mal ein paar Schellen zu verteilen oder andere Erziehungsmaßnahmen durzuführen. Im Einverständniss der Eltern. So etwas würde heute auf einen Zivilrechtsprozess herauslaufen.
    Daher sind wir gerannt bis uns die Lunge herauskam. Durch die Gassen und über die Felder.
    Herrlich.

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    1. Die Freiheit war größer, aber auch die Gefahr. Bei schlechtem Wetter hatten wir unsere Bücher und das Radio, abends Fernsehen. Das war eine völlig ausreichende Medienwelt.

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    2. Wobei ich das Verbot der "körperlichen Zucht" tatsächlich als Fortschritt bezeichne welches auch damals schon mehr als überfällig war.
      Die Vereinsamung weil irgendwelche Digets und Gadges wichtiger als soziale Kompetenz geworden sind, hingegen nicht.

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