Er
betrachtete seinen Wandkalender. Jeder Tag hatte eine Nummer. Der Monat begann
mit Tag 1 und endete mit Tag 30. Alles in schönster Ordnung. Das gefiel ihm.
Und da er keine Termine hatte, ging er hinaus in den nebelgrauen Herbsttag und
beschloss, sich an diesem Tag etwas Besonderes zu gönnen.
Vor
dem Haus saß ein Bettler und hob die Hand, als er ihn sah. Aber selbst die
verzweifelten Gesichter der Laokoon-Gruppe hätten ihm keinen roten Heller
entlockt. Er hatte genau 124 Euro in seiner Brieftasche und dort gehörten sie
auch hin. Er dachte an seine Kindheit zurück. Sommer, Freibad, der Geruch von
Sonnenöl und Bratfett. Der Kiosk. Damals hatte er nur Geld für eine Tüte Pommes
frites mit Ketchup oder ein Eis am Stiel. Wie oft hatte er vor der bunten Tafel
mit den Eissorten gestanden und sein Kleingeld gezählt?
Jetzt
konnte er sich alles leisten. Aber wo sollte er anfangen? Er schlenderte die
Straße entlang und spähte in das Schaufenster einer Konditorei. Vielleicht ein
Stück Torte? Eine Tasse Kaffee? Aber er mochte die Stehtische nicht. Seit wann
isst man Torte im Stehen? Als er noch ein kleiner Junge war, mochte er
Malzbonbons. Seine Oma kaufte sie ihm tütenweise. Bayrisch Blockmalz, die
Schrift in Fraktur, die Tüte hatte ein weiß-blaues Rautenmuster. Auch kandierte
Erdnüsse mochte er. Es gab rote Automaten, die an den Häuserwänden
festgeschraubt waren. Für zehn Pfennig bekam man eine Handvoll. Sie waren
längst verschwunden, genauso wie Lutscher. Kein Kind hatte mehr einen Lutscher
im Mund.
Er
setzte sich auf eine Bank und schloss die Augen. Er hob den Kopf und das
Sonnenlicht war orange auf seinen Lidern. Jetzt eine Zigarre. Er hatte schon
seit zehn Jahren nicht mehr geraucht. Einfach eine gute Zigarre. Als Kind hatte
er die verschiedenen Zigarrenbinden seines Vaters gesammelt und in ein Album
geklebt. Wohin war dieses Album verschwunden? Gab es überhaupt noch
Tabakwarenläden, in denen man eine einzelne Zigarre kaufen konnte? Er konnte
sich gar nicht daran erinnern, wann er zuletzt ein solches Geschäft in seiner
Stadt gesehen hatte.
Er
öffnete die Augen und sah auf seine Schuhe. Dunkelbraune Lederschuhe. Wann hatte er sie gekauft? Vor zehn Jahren? Da kam ihm
plötzlich eine Idee. Als Kind hatte er Adidas-Schuhe getragen. Adidas Samba.
Schwarz, mit weißen Streifen. Er würde sich Sportschuhe kaufen. Natürlich
machte er seit Jahren keinen Sport mehr. Aber warum nicht? In der Innenstadt
gab es ein Schuhgeschäft, dass die neuesten Modelle im Angebot hatte. Er würde
sich ein Paar Schuhe kaufen. Ein großartiger Einfall. Besser als Steakhaus oder
Vinothek.
Im
Schuhgeschäft sah er sich lange um. Es gab tolle Modelle. „Fußbetttechnologie“
und andere Fachbegriffe. Aber seine 124 Euro reichten nicht für die
Sportschuhe, die er gerne gehabt hätte. Seine Kreditkarte hatte er zuhause
gelassen. Eine Verkäuferin kam auf ihn zu und fragte, ob sie ihm helfen könne.
Er sah in ihre Augen und erinnerte sich für einen Augenblick an ein Gespräch,
das er mit seiner Ex-Freundin geführt hatte.
Sie
hatten sich Jahre nach der Trennung in einem Café getroffen und ein wenig
geplaudert. Sie war inzwischen verheiratet und hatte einen Sohn. Er hatte sie
an diesem Tag gefragt, welche Augenfarbe ihr Ehemann habe. Sie hatte
geantwortet, dass seine Augen blau seien. In Wirklichkeit waren sie grün. Er
hatte sich über ihre Antwort lustig gemacht, bis es ihm selbst peinlich wurde.
Und darüber hinaus. Wie ein Zwölfjähriger.
Die
Augen der Verkäuferin waren grün mit winzigen schwarzen Punkten. Kiwi-Augen. Viele
verwechseln hellgrüne Augen mit blauen Augen und dunkelgrüne Augen mit braunen
Augen. In Deutschland gibt es viel mehr Menschen mit grünen Augen, als man
denkt. Er schüttelte den Kopf. Nein, sagte er, Sie können mir nicht helfen.
Dann verließ er das Sportgeschäft.
Auf
dem Weg nach Hause setzte ein feiner Nieselregen ein. Nicht stark, aber
beständig. Als er seine Wohnungstür aufschloss, war er nass bis auf die Haut.
Bob Marley - Satisfy My Soul. https://www.youtube.com/watch?v=jAdBJu7qWwQ
Vom Stil her erinnert die Geschichte leicht an Ernest.
AntwortenLöschenEvaluier-dein-Leben-Tag 2020
AntwortenLöschen19. Oktober 2020 in der Welt
Was bleibt, ist die Veränderung; was sich verändert, bleibt.
© Michael Richter
*tja...so...oder...anders*
"... vor der bunten Tafel mit den Eissorten gestanden und sein Kleingeld gezählt? "
AntwortenLöschenReicht's für ein Twinni oder nur für ein Capri? ;-)
Es gibt jetzt Ahoibrause-Eis. Die guten alten giftigen Farben !
Neulich habe ich mir mal wieder ein Capri-Eis geholt. Früher gab's ja auch das Wassereis im Plastikschlauch für zehn Pfennig - der Klassiker.
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