Mittwoch, 22. Juli 2020

The Newsmaker


Chilly Lemmons. Klingt nach einem Cocktail oder wenigstens nach einer Sängerin. Aber sie arbeitete als Kellnerin. Chilly hatte ein winziges Kellerzimmer, über dessen Wände hundert Jahre alte Kakerlaken krochen. Die Decke war so hoch, dass man sie nicht sehen konnte, und vor dem einzigen Fenster rumpelte und kreischte alle fünf Minuten eine U-Bahn vorbei. Es war ein verdammt tiefer Keller.
Von acht Uhr abends bis zum Morgengrauen bediente sie im Madison Queer Garden in Neukölln. Sie hatte mal die Kotze von Sido aufgewischt, das war ein Highlight ihrer Arbeit gewesen. Ansonsten hingen hier die Leute rum, die Künstler werden wollten, aber noch immer nicht bemerkt hatten, dass sie es nicht schaffen würden.
Früher hatte der Laden schon am Nachmittag auf, aber irgendwann saß an jedem Tisch ein bärtiges Holzfällerhemd mit Dutt vor seinem Macbook und schrieb an einem Roman. Alle zwei Stunden bestellte es einen neuen Chai Latte oder ein Fläschchen Club-Mate, an dem es endlos herumnuckelte. Das war ein deprimierender Anblick und brachte keinen Umsatz.
Nachts bevölkerten Leute wie Señor Coucho die Bar. Er war über vierzig und hatte seinen Stolz längst abgelegt. Das Job-Center bezahlte seine Miete, seine Krankenkasse und ein kleines Taschengeld, das für Brot und Käse reichte. Sein drei Zentner schwerer Leib war mit Tätowierungen wie „All Sachbearbeiter Are Bastards“ und „Socialismo o muerte“ dekoriert. Den Alkohol verdiente er sich mit Gemälden, die er aus Internetfotografien destillierte, meistens grotesk vergrößerte Details von Graffiti oder Berliner Straßenszenen, die in rostiges Eisen gerahmt wurden.
Der dritte White Russian verbreitete gerade Wärme in seinem Bauch und Zuversicht in seinem Herzen, als MC Feinripp an seinen Tisch trat. Er hatte wie immer sein Basecap aus schwarzem Leder auf, die er nur zum Schlafen ablegte, damit niemand seine Halbglatze sah. In guten Zeiten hatte er in Clubs Platten aufgelegt, aber die Zeiten waren nicht gut. Seine Eltern in Westdeutschland zahlten die Miete und den Rest finanzierte er mit der Grasplantage in seiner Wohnung.
„Welch seltener Glanz in unserer bescheidenen Jurte“, begrüßte ihn Señor Coucho und wies mit einer großzügigen Geste auf den Stuhl gegenüber.
„Was bekomme ich denn für diese kostbaren Gewürze?“ fragte MC Feinripp und wedelte mit einem durchsichtigen Plastikbeutel, während er sich setzte.
Señor Coucho ließ den Beutel in den weiten seines bunt gemusterten Ponchos verschwinden und sagte: „Du hast dir gerade einen Zwanzig-Euro-Bonus erworben.“
Schon stand Chilly Lemmons an ihrem Tisch. Hellblaue Kurzhaarfrisur, schwarzes Top und eine Hose aus Schlangenhautimitat.
Gut gelaunt gab der König des Gartenbaus einen Zombie in Auftrag.
Chilly hob eine Braue. „Ist bei dir der Wohlstand ausgebrochen?“
Er grinste nur. „Der Durst kann Berge versetzen. Usbekisches Sprichwort.“
Als sie wieder allein waren, setzte MC Feinripp eine Verschwörermiene auf und senkte die Stimme. „Wir haben jetzt endlich eine Location für die Party gefunden. Todsichere Sache. Garantiert ohne Bullen und Stress.“
***
Josef Nothnagel betrat das Büro des Chefs. Bonetti zündete sich gerade eine Cohiba mit einem Hundert-Zloty-Schein an.
„Nothnagel, wie lange arbeitest du jetzt für mich?“
„Vier Wochen.“
„Warst du schon mal am Westhafen?“
„Nie gehört.“
„Schreib dir mal auf: Lise-Meitner-Straße 45. Direkt am Kanal. Da gehst du zum Chef, der heißt Toni. Du sagst, Andy schickt dich. Dann weiß er Bescheid. Wir mieten die Halle für eine Nacht. Nächste Woche Samstag.“
Als Nothnagel gegangen war, griff Bonetti zum Telefonhörer. „Paule, wir machen das. Für eine Nacht lässt du deinen Club wieder leben. Miete geht auf meine Kappe, dafür habe ich die Story exklusiv. Sag deinen Leuten, sie können die Buschtrommeln anwerfen. Feinripp, Cleopatra und wie sie alle heißen. Erster August. Die Leute sollen mit dem Taxi kommen, ich will da keine Autos stehen sehen. Kann ja sein, dass doch mal ein paar Streifenhörnchen vorbeikommen.“
***
Sonntagabend. Auf Bonettis Schreibtisch begann das Whiskyglas zu vibrieren. Die Druckmaschinen wurden gerade angeworfen. Am Montag würde „The Underground“, Bonettis neues Boulevardmagazin, mit daumendicken Buchstaben auf der Titelseite erscheinen: „DEUTSCHLANDS FETTESTE CORONA-PARTY“. Mit einer tanzenden Chilly Lemmons in Großaufnahme.
Wenn man die Nachrichten selbst macht, gibt es nur Gewinner. Chilly hat zweihundert Euro für das Foto bekommen, die DJs haben Geld verdient, Paule und seine Crew vom „SadoMaso“ in Friedrichshain haben ohne Ende Getränke verkauft, Señor Coucho hat sich frisches Bildmaterial besorgt und zweitausend Partygäste hatten einen Riesenspaß.
Señor Coconut - El Baile Aleman. https://www.youtube.com/watch?v=nGnFF5w5sro

2 Kommentare:

  1. Corona und Bonetti schreiben die besten Stories !!!

    *abervonmirhabenSIEdasnicht...anonymst*

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  2. Das Teppichland an der Nudelbrücke aka Goerdeler Steg? Na sicher streifen da die Hörnchen auch umher. Spätestens die Laubenpieper da rundrum hetzen die euch auf den Hals, aba wahrscheinlich läuft das Set über Kopfhörer die ihr jeden von den Bratzen aufklemmt. Neumodischer Kram da...


    MfG Nouseforaname

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