Freitag, 24. Juli 2020

Pantoffelhelden des Widerstands


“Hilde!”, rief er aus seinem Arbeitszimmer. „Hilde!“

Seine Frau kam aus dem Wohnzimmer und lehnte sich an den Türrahmen. „Ach, Dieter, jetzt schrei doch nicht so. Was gibt’s denn?“

„Der Benno hat mich schon wieder beleidigt. Verschwörungstheoretiker hat er mich genannt. Und der Wodarg wäre ein Scharlatan. Dabei ist der Arzt.“

„Musst du bei dem schönen Wetter den ganzen Tag vor deinem Computer sitzen? Komm doch raus auf den Balkon. Oder mach wenigstens mal das Fenster auf. Man erstickt ja in diesem Mief.“

„Auf den Kommentar muss ich antworten. Ich habe da ein paar neue YouTube-Videos. Da Leute kapieren es einfach nicht. Ich bringe hier Fakten, Fakten, Fakten und die ganzen Schlafschafe können nix außer persönliche Angriffe. Ad hominem, sage ich nur, ad hominem.“

„Ja, das ist jetzt dein neuer Lieblingsausdruck. Und die Schutzmaske ist der Gesslerhut. Von wegen Wilhelm Tell. Das hast du mir schon hundert Mal erzählt. Wie kann man nur sein ganzes Leben im Internet verbringen? Was ist denn eigentlich mit deiner Gitarre? Du wolltest doch mal wieder üben?“

Dieter schwieg und fing verbissen an zu tippen. Benno, Tunix, Gramsci, Fidel und wie sie alle hießen. Seine Freunde aus dem Netz. Alle Opfer der Medienpropaganda. Staatsfunk und Internetseiten, die von Bill Gates finanziert waren. Marionetten des Systems. Abtrünnige. Verräter.

Mit der Gitarre war es auch vorbei. Er war jetzt siebzig. Gicht, Rheuma, Rücken, Blutdruck. Einfach alles. An Gitarre war gar nicht zu denken. Sweet Home Alabama, sein Lieblingsstück. Angeblich rechts, behaupteten irgendwelche jungen Leute. Durfte man nicht mehr bringen. Er hatte es vierzig Jahre lang gespielt, aber natürlich nie auf den Text geachtet. Von Lynyrd Skynyrd wusste er auch nichts, außer dass sie einen merkwürdigen Bandnamen hatten.

Die jungen Leute heutzutage. Die haben doch keine Ahnung. Er war 1968 dabei gewesen. Wenn auch nur in Gütersloh. Dann kam der Radikalenerlass. Aber er war nie irgendwo Mitglied gewesen. Ehrensache als Anarchist. Also entkam er mit knapper Not dem Berufsverbot und hatte vierzig Jahre im Grünflächenamt gearbeitet. Aktiver Umweltschutz. 1975 der Summer of Love, als er Hilde kennenlernte. Mit dem Rucksack durch Griechenland. Wahnsinn! Haste mal ‘ne Drachme, Alter?

Wo war denn jetzt die Datei mit der URL von dem Video? Er musste hier mal dringend Ordnung machen. Eigentlich hatte er ja jede Menge Zeit. Kinder aus dem Haus, Schäfchen im Trockenen, Haus längst abbezahlt und die Rente kam pünktlich. Aber sein Zimmer sah aus, als wäre er fünfzehn und hätte ADHS plus Messi-Syndrom.

Diesen Kommentar noch, dann gucke ich nochmal bei den Blogs der Spielplatzrebellen und von Flattermann Schwammkopf vorbei, dachte er. Und dann gönne ich mir ein Bierchen auf dem Balkon. Was Hilde wohl zum Abendbrot macht? Wo sind denn meine Pantoffeln?

David Bowie - What in the World. https://www.youtube.com/watch?v=gLTFedtVXdY

 


7 Kommentare:

  1. Alte Männer, die nicht loslassen können, machen mich traurig. So will ich nicht werden, befürchtete aber eine Kurskorrektur in meinen Sechzigern: Diese Zitrone hat noch Saft, werde ich meinen Enkeln zurufen und zum Bloggerstammtisch radeln, wo ich meine Clique sendungsbedürftiger Hobbyjournalisten treffe. Nur Männer, die Frauen haben Hobbys. Und sind selig, wenn der Gatte mal ein paar Stunden Gassi geht - gern auch ohne Hund, Hauptsache weg.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Früher hatten die alten weißen Männer ihren Hobbykeller, jetzt haben sie den Kommentarbereich im Internet. Weil sie alle beratungsresistent und im Besitz ewiger Wahrheiten sind, sind ihre Diskussionen auch so fruchtlos. Sie wollen sich nicht überzeugen lassen, sie wollen überzeugen und Recht behalten. Ein ewiges Armdrücken auf intellektuell extrem niedrigem Niveau.

      Löschen
  2. Die Coronaleugner sind ne Art linke Pegida. Aber sie brüllen halt Systempresse statt Lügenpresse.

    AntwortenLöschen
  3. Jaaa, ich weiß, aber mal ernsthaft.
    Ich werde fast jedes Jahr mal Krank, Grippe oder so, Großraumbüro und überhaupt Menschen.
    Übrigens alle. Fast jeder hat pro Jahr mal was, manche sterben sogar daran. Die Alten dann, aber auch jüngere, die nicht auf Ihren Körper gehört haben. Sportler, die zu früh wieder trainiert haben z.B.. Kenne da einen Fall.
    Habe die Jahre dann auch einige Alkohol und/oder Drogenopfer sowie Krebstote zu Grabe getragen.
    Verkehrstote hat nachgelassen, waren aber auch einige im Laufe meines Lebens.
    Ich kenne aber kein einziges Covid 19 Opfer. Tut mir leid.
    Mein Nachbar kennt einen, dem seine Nichte kennt ein Covid Opfer.
    Das ist das Ergenbis von bald 6 Monaten Leben mit Covid 19. Es kann nicht so schlimm sein.
    Scheint mir, irgendwie............

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Klar, wenn Sie niemanden kennen, gibt es gar keine weltweite Seuche. Ich kenne auch niemanden, der im Irakkrieg oder in Syrien gestorben ist.

      Es kann nicht so schlimm sein ... Dieter :o)))

      Löschen
  4. https://xkcd.com/386/

    P.S. "Dieter" und "Hilde" sind Namen, die garantiert nie wieder in Mode kommen.

    AntwortenLöschen