Samstag, 3. Dezember 2016

Die Königin der Rückblenden

„Ich kann mir keine Namen und keine Gesichter merken. Aber wem sage ich das?“ (Friedemann Weise)
Ich habe es geschafft. Ich habe alles bekommen, was ich wollte. Das große Haus, die Limousinen, die Frauen, das Geld, das Koks – und den riesigen Swimming Pool voller Champagner. Genau in diesem Pool stehe ich jetzt in drei Meter Tiefe und habe Betonschuhe an. Während mein Leben an mir vorüberzieht, kann ich Ihnen genauso gut die ganze Geschichte erzählen. Sie beginnt mit den Worten:
Alles begann mit einem Schulpraktikum in einer Eisenwarenhandlung der Firma Stauber & Aschmann in der Scott Avenue in Brooklyn, deren Hinterhöfe und miese kleine Firmen eine weltberühmte Location für Dreharbeiten an Mafiafilmen sind.
Stellen Sie sich jetzt bitte ein Bild dieser Eisenwarenhandlung vor, dessen Ränder wellenförmig verschwimmen.
Eines Tages betrat ein Mann mit einer Sonnenbrille und einem schwarzen Nadelstreifenanzug das Geschäft. Natürlich habe ich mich erstmal hinter einem Regal versteckt. Damals trug ich einen Overall, der mit einem Bild von einem Regal bedruckt war, damit ich in der Eisenwarenhandlung möglichst wenig auffiel. Vorsichtig lugte ich hervor und beobachtete den Mann, der sich an den Info-Schalter stellte und wartete. Dazu muss man wissen, dass es keinen einsameren Ort auf der Welt gibt als den Info-Schalter von Stauber & Aschmann.
Fünf Minuten vergingen, zehn Minuten. Geh nach Hause, dachte ich. Geh endlich weg. Was willst du hier?
Plötzlich zog der Mann eine zwanzig Pfund schwere Knarre aus dem Schulterhalfter und schoss zweimal in die Decke. Dann schrie er: „Wessen Knie muss ich hier rammeln, um Kugeln für ein Kugellager zu bekommen?“
Vorsichtig schaute ich um die Ecke und sagte: „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“
„Verdammt nochmal, das kannst du, Junge. Komm her.“
Wie es sich herausstellte, hatte ich es mit Maurizio Bora zu tun, dem Mafiaboss von Brooklyn, genannt „The Silver Bullet“. Den Spitznamen hatte er von einer Kugel, die er sich in einem Schusswechsel mit der New Yorker Polizei eingefangen hatte. Nachdem sie ihm entfernt worden war, hatte er sie versilbern lassen und trug sie seitdem an einer Kette um den Hals. Aber das ist eine andere Geschichte und ich habe nicht allzu viel Zeit, weil mir langsam die Luft ausgeht.
Ich sollte ihm also die Kugeln für sein Kugellager am nächsten Tag nach Hause liefern. Es stellte sich heraus, dass er in einer riesigen Villa in den Hamptons lebte. Als ich am Nachmittag das Grundstück erreichte, war das Eisentor der Einfahrt offen. Ich fuhr bis zur Tür des Hauses und stieg aus.
Die Tür war offen, aber ich klingelte.
Nichts. Ich klingelte nochmal.
Dann ging ich ins Haus.
Ich fand Mister Bora im Wohnzimmer auf seinem Sofa. Seine Stirn hatte ein hässliches Loch und sein halber Hinterkopf fehlte.
Auf dem Boden lag ein Revolver. Ich hob ihn auf. Der Lauf war noch heiß.
„Was machen Sie da?“
Ich drehte mich um und sah den Mann lange an. „Ich … äh … bringe die Kugeln.“
An den Rest der Geschichte kann ich mich nicht mehr erinnern.
Iggy Pop – Lust For Life. https://www.youtube.com/watch?v=jQvUBf5l7Vw

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