„Ein Journalist ist ständig auf der Jagd nach Geschichten. Ein Schriftsteller macht genau das Gegenteil: Er wartet, er sitzt ganz still, er versucht, an gar nichts zu denken - und irgendwann kommt seine neue Geschichte wie eine Katze angeschlichen.“ (Andy Bonetti: Ein Mensch namens Dieter)
Wir dokumentieren Fragen von Studenten eines Creative Writing-Studiengangs an Andy Bonetti.
F: Welcher Anteil haben persönliche Erfahrung, Intuition und Recherche am Schreiben?
A: Das können Sie nicht apodiktisch beantworten, im Sinne eines Lehrsatzes. Das hängt vom konkreten Thema ab. Nehmen Sie an, Sie hätten eine schmerzhafte Darmentzündung. Dann reicht Ihre persönliche Erfahrung, ergänzt durch ein paar zusätzliche Informationen aus dem Internet. Aber was machen Sie beispielsweise mit Fukushima? Niemand von uns war während der Katastrophe da, und ich nehme an, Sie kennen niemanden in Fukushima. Da hilft nur Recherche. Und wenn Sie Glück haben und für einen Sender oder einen Verlag mit genügend Geld arbeiten, schickt man Sie vor Ort zu einer Recherche, bei der Sie Interviews mit Menschen machen können, die persönliche Erfahrungen mit dieser Katastrophe sammeln konnten.
F: Kann man überhaupt ohne persönliche Erfahrungen ein Thema bearbeiten?
A: Natürlich. Denken Sie an historische Romane oder Science Fiction. Aber viele dieser Schreibprojekte enden in Kitsch oder Trash, weil sich die Autoren nicht in andere Zeiten oder Welten einfühlen können. Sie liefern sehr häufig nur eine Projektion ihrer eigenen Zeit in eine andere Epoche. Dann wird im Mittelalter über Fragen der Frauenbewegung diskutiert oder auf fernen Planeten über Fragen des Parlamentarismus. Grundsätzlich gilt: Je näher ein Thema dem Autor ist, desto einfacher ist die Bearbeitung.
F: Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
A: Meine Romane spielen hauptsächlich in Bad Nauheim. Ich bin dort geboren, ich kenne die Stadt und die Gegend, die Menschen und die Themen, die diese Stadt bewegen. Wenn ich jetzt über einen Frauenarzt in Peru schreiben müsste, der mit einem Holzbein auf der Suche nach den Kronjuwelen einer versunkenen Urwalddynastie ist, würde mein Text an Glaubwürdigkeit verlieren – zumindest in Lima.
F: Wie kommt man an Themen für einen Roman?
A: Suchen Sie kein Thema, das Thema findet sie. Es ist wie ein Virus. Sie bekommen ein Thema nicht mehr los, es geht Ihnen im Kopf herum. Sie wollen mehr wissen, sie recherchieren. Es gibt Personen, die Sie mit der Handlung verbinden. Sie bekommen ein Gesicht, sie beginnen, mit Ihnen zu sprechen. In diesen Personen konkretisiert sich Ihr Thema. Wehren Sie sich nicht gegen diesen Prozess, schreiben Sie einfach alles auf, egal, wie sinnlos oder unstrukturiert Ihnen der Stoff erscheinen mag.
F: Kann man vom Schreiben leben?
A: Wie viele Leute sind hier im Saal? Einhundert? Einer von Ihnen wird es schaffen. Der Rest wird verhungern und bis ins Grab vom Erfolg träumen. Damit ist nicht gesagt, dass hier nicht einhundert fähige Autorinnen und Autoren sitzen. Aber der Markt braucht nicht so viele Autoren. Die Zahl der Arbeitsplätze in der Branche ist eng begrenzt, obwohl sehr viel mehr talentierte Menschen vorhanden sind. Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit, aber so ist es.
F: Ist Schriftseller ein Traumjob, wenn man es geschafft hat, Mister Bonetti?
A: Nein, es ist die Hölle. Ich würde es keinem von Ihnen empfehlen. Welcher Künstler verdient nur zehn Prozent am Verkauf seiner Kunst und muss darauf auch noch Steuern zahlen? Können Sie eine Skulptur in Sekundenschnelle reproduzieren? Einen Roman können Sie endlos vervielfältigen, ohne den Autor zu beteiligen. Wenn ich bei manchen Romanen meinen Stundenlohn berechne, komme ich noch nicht einmal auf den staatlichen Mindestlohn.
F: Das klingt nach Resignation.
A: Literatur ist eine Sucht, kein Beruf. Aber ich bin zu alt und zu schwach, um noch einmal neu anzufangen. Sie sind jung und stark, ich werde mein Leben nicht mehr ändern können.
F: Aber Sie sind doch ein erfolgreicher Schriftsteller.
A: Es war ein langer Weg. Ich habe nordkoreanische Pornos synchronisiert und Ansagen für Autoscooter geschrieben. Ich komme von ganz unten. Und von dort ist es ein weiter Weg zur Nr. 1 in Bad Nauheim. Da können Sie jeden Kioskbesitzer fragen, der heute Bonettis Werke im Sortiment hat.
Ultravox – Visions in Blue. https://www.youtube.com/watch?v=1uMyA4fP_VI
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