Freitag, 10. April 2015

Traumspiel

„Im Frühling, so scheint es, werden Männer und Mannestaten plötzlich so überflüssig, so dumm.“ (Robert Walser: Tiergarten)
Heute Nacht habe ich geträumt, ich hätte an einer Spielshow im Fernsehen teilgenommen. Das Spiel geht so: Es gibt einen Goldschatz, zwanzig Münzen in einer Glasröhre, der in einem Haus versteckt ist. Zwanzig Kandidaten müssen in diesem Haus das Gold suchen. Überall sind Kameras, so dass die Zuschauer das Spiel verfolgen können. Wer mit den Münzen das Haus verlassen kann, hat gewonnen und darf das Gold behalten.
Zufällig beobachte ich, wie eine Kandidatin das Gold auf einem Schank hinter einer Kiste versteckt. Als sie das Zimmer verlässt, hole ich das Gold und verstecke es in einer Schreibtischschublade hinter anderen Röhren, die so ähnlich wie die gesuchte Glasröhre aussehen, und gehe hinaus. Während alle anderen weitersuchen, setze ich mich in einen Sessel neben die Haustür und behaupte gegenüber den anderen Kandidaten, meine Strategie sei es, den Finder des Goldes an der Haustür abzufangen.
Später gehe ich auf die Toilette. Es gibt eine Damen- und eine Herrentoilette mit sehr wenigen Versteckmöglichkeiten. Trotzdem durchsucht ein anderer Kandidat den Raum, nachdem ich ihn verlassen habe. Vor der Toilette unterhalte ich mich mit ihm und wir gehen zusammen weiter in ein großes Zimmer, als er einen Anruf auf seinem Handy bekommt. Eine Kandidatin, mit der er offenbar zusammenarbeitet, erzählt ihm, ein anderer Kandidat, der sich verdächtig verhält, käme gleich zu uns ins Zimmer. Ich höre alles mit und verstecke mich hinter der Tür.
Tatsächlich kommt ein Mann herein, der etwas unter dem Sofa versteckt, während der andere Kandidat immer noch telefoniert und abgelenkt ist. Als der Mann das Zimmer verlassen will, komme ich aus meinem Versteck und verlange, ihn untersuchen zu dürfen. Es lässt es geschehen, weil es zu den Spielregeln gehört. Als ich allein im Zimmer bin, schaue ich unter dem Sofa nach. Dort finde ich nur eine leere Röhre. Es war also nur eine Finte, ein Ablenkungsmanöver.
Ist der Schatz noch an dem Ort, an dem ich ihn versteckt habe? Ich beschließe, später nachzuschauen, wenn alle müde geworden sind, weil sie permanent das große Haus durchsuchen. Ich lege mich in eines der Betten, die alle von der Sucherei schon ziemlich zerwühlt sind. Tatsächlich schlafe ich ein und erwache erst, als jemand vorsichtig meine Taschen durchsucht. Ich drehe mich um und sehe den Kandidaten, der vorhin telefoniert hat. Ich schaue ihm ins Gesicht. „Du weißt gar nichts“, sagt er und grinst mich an.
Nina Hagen - Herrmann hieß er. https://www.youtube.com/watch?v=oMO1D0tF3uc

Donnerstag, 9. April 2015

Herrengespräch

„Das Regieren beruht auf zwei Dingen: zügeln und betrügen.“ (Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe)
Herbert und Günther kennen sich schon seit der Schulzeit. Sie sitzen auf der Terrasse ihres Golfclubs. Es ist früher Nachmittag und der Kellner bringt gerade die zweite Runde Gin Tonic und frische Erdbeeren mit Schlagsahne.
Günther: Was für ein herrlicher Sonntag. Und du hast sogar Parlamentsferien.
Herbert: Ja, aber das hat mit echten Ferien nichts zu tun. Es heißt nur, dass ich von Berlin in meinen Wahlkreis reisen muss. Das ist nicht immer angenehm.
Günther: Aber hier bist du doch zu Hause. Wir sind hier aufgewachsen. Ich bin immer froh, wenn ich von meinen Geschäftsreisen zurück bin und meine Heimatstadt wiedersehe.
Herbert: Du bist Unternehmensberater. Dich behelligen die Leute nicht, wenn sie dich auf der Straße sehen. Deine Kunden sind weit weg. Ich begegne meinen Kunden auf Schritt und Tritt.
Günther: Aber ist das in Berlin nicht genauso?
Herbert: Dort erkennt mich aber niemand auf der Straße. Ich bin ja nur ein stinknormaler Abgeordneter. Die Leute kennen ja noch nicht mal alle Minister der Regierung.
Günther: Na, hier im Golfclub bist du wenigstens sicher. Hier wählt niemand SPD.
Herbert: Du Witzbold. Die Wähler schreiben mir Mails, sprechen mich vor meinem Haus an oder kommen in die Bürgersprechstunde in meinem Wahlkreisbüro.
Günther: Und was wollen die Leute von dir?
Herbert: Da geht es zum Beispiel um diese ganzen neuen Freihandelsabkommen. TTIP und wie die alle heißen. Und ich habe keine Ahnung davon. Du arbeitest doch in der Wirtschaft. Was weißt du darüber?
Günther: Ich berate Unternehmen bei der Prozessoptimierung und der Anpassung des Personalbestands an den Auftragseingang. Mit diesen Freihandelsgeschichten habe ich nichts zu tun.
Herbert: Kennst du jemanden, den ich mal fragen könnte?
Günther: Ich rufe mal meine Assistentin an. Junge Leute kennen sich ja mit diesen neumodischen Sachen oft besser aus als wir und haben das im Notfall ganz schnell im Internet recherchiert. Er holt sein Handy aus der Jackentasche und drückt eine Taste. Ja, Krollmann hier, ich grüße Sie, Frau von Weberknecht. Was wissen Sie über die Freihandelsabkommen mit den Amis, TTIP und so? Ich bin gerade in einem Meeting mit einem Kunden. Er hört eine Weile zu. Mhm, ja, mhm, gut. Danke und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag.
Herbert: Und?
Günther: Sie meint, es würde sich positiv auf den internationalen Handel auswirken. Wäre gut für unsere Position als Exportnation. Die Prognosen der Experten schwanken zwischen null und nullkommaeins Prozent Wachstum jährlich nach einer Übergangszeit von etwa zehn Jahren. Rechtlich bedenklich wären die Schiedsgerichte, die Klagen der Unternehmen gegen ganze Staaten bearbeiten sollen, aber weder juristisch noch demokratisch legitimiert wären.
Herbert: Aha. So ist das. Klingt kompliziert. Da werde ich mal meinen Mitarbeiter in Berlin anrufen. Er holt sein Handy aus der Jackentasche und drückt eine Taste. Hallo? Ja die Jenny, grüß dich. Holst du mal den Papa ans Telefon? Das ist lieb. Hallo? Mischa Kloeber, Schattenschneider am Apparat. Ich muss hier gleich ein Interview mit einem Lokalblatt machen. Was wissen Sie über diese ganzen Freihandelsabkommen, TTIP und so weiter? Er hört eine Weile zu. Mhm, ja, mhm, gut. Danke und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag.
Günther: Und?
Herbert: Er hat gesagt, die SPD-Fraktion wird geschlossen für diese Abkommen stimmen.
Günther: Na, dann ist ja alles in Ordnung.
Herbert: Ja, Günther. Prost!
Günther: Prost, Herbert!
Tenpole Tudor – Wunderbar. https://www.youtube.com/watch?v=3bx7QFFlV9M

Mittwoch, 8. April 2015

Heliodoros

Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber bereits in der Spätantike, im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, wurden Romane geschrieben, die den heutigen Werken in nichts nachstehen. Gerade habe ich „Die Abenteuer der schönen Chariklea“ von Heliodoros gelesen, eine Abenteuerroman mit geschickt ineinander verwobenen Handlungssträngen, der uns den gesamten hellenischen Weltkreis von Libyen bis Persien, von Griechenland über Ägypten bis zum Finale der Geschichte am Königshof von Äthiopien präsentiert. Piraten und Priester, Liebende und Verdammte, Krieger, Händler und Fürsten – das ganze Personaltableau der antiken Welt in einer einzigen actiongeladenen Geschichte von knapp dreihundert Seiten feinster Prosa mit geschliffenen Dialogen, Landschafts- und Personenbeschreibungen, kurzen Erklärungen der Sitten und Gebräuche ganzer Kulturen oder einzelner Räuberbanden am Rande der Gesellschaft, Szenen in Palästen und Dörfern, Duellen und Entführungen, Schlachten und Sportwettkämpfen, Liebe und Verrat zu Lande und zu Wasser und und und. Bis ins 19. Jahrhundert fehlte dieser Roman in keiner guten Bibliothek.
„Nach dem Untergang der klassischen Welt war es ein Jahrtausend lang Lieblingslektüre der Byzantiner. Als der neu erwachende Westen das Altertum wieder entdeckte, gelangte die erste Handschrift des Werkes nach Deutschland. Bei der Plünderung von Ofen im Jahre 1526 nahm sie ein beutelustiger Soldat aus der Bibliothek des Ungarnkönigs Matthias Corvinus mit sich“, wie es im Nachwort der Ausgabe von Gustav Kiepenheuer (Berlin 1943) heißt, die ich in einem Antiquariat aufgetrieben habe. Diese Handschrift wurde gesetzt und gedruckt, Übersetzungen in viele Sprachen folgten. Cervantes und Racine, Shakespeare und Goethe haben es gelesen. „Das Erstaunlichste ist: Nichts fehlt zum wirklichen Roman, nichts, was etwa später – einundeinhalb Jahrtausend später – als der Roman die große Mode wurde, dazugekommen wäre. Kein späterer Romanschriftsteller konnte zu dem Bau dieses heute noch populärsten Typs des Schrifttums irgendetwas grundlegend Neues finden oder erfinden.“

Planetenträume (1987)

Es schien, als sei der Boden aus einem fließenden Licht, das alles um ihn herum verschwimmen ließ. Nach oben hin wurde der helle Schein zunehmend von einer unirdischen Dunkelheit geschluckt. Plötzlich erscholl eine mächtige Stimme: „Bereite dich auf Yedars Prüfung vor!“ Danach nur noch vollkommene Stille.
Z dachte immer wieder an diesen Traum, den er einige Nächte zuvor gehabt hatte. Schweißgebadet war er aufgewacht, doch so sehr er in dieser Nacht auch über die Bedeutung des Traumes nachgedacht hatte, er blieb rätselhaft. Doch nun hatte er sich auf andere Dinge zu konzentrieren. In wenigen Augenblicken würde er auf einem unerforschten Planeten landen, der reiche Edelmetallvorkommen versprach. Er war Wissenschaftler auf einer interstellaren Expedition, die neue Lebensräume und Rohstoffquellen erschließen sollte.
Vor ihm saß der Pilot des kleinen Landegleiters, der sich mit dem Leiter der Mission unterhielt, neben ihm saß ein Geologe, der zum wiederholten Male seine Geräte prüfte. Der schwarze Rumpf schoss wie ein Pfeil auf die Oberfläche des Planeten zu und schwenkte dann in eine Umlaufbahn ein. Eigentlich sollten die Kufen ihres Gleiters sanft und geräuschlos aufsetzen, doch als es dann soweit war, hörten alle Insassen zu ihrer Verblüffung ein kreischendes Geräusch, dessen Quelle nicht auszumachen war.
Der Pilot stieg aus, um die Außenhülle des Gleiters zu kontrollieren, die Anderen blieben unschlüssig auf ihren Sitzen und blickten durch die Fenster auf die milchig-blaue Landschaft, die sich in der Ferne im Dunst verlor. Von draußen hörte man gelegentlich ein Stöhnen, dann kam der Pilot zurück. Er schien verstört und bat die Wissenschaftler, sie sollten es sich selbst ansehen.
Als sie die Oberfläche des Planeten betraten, machten sie eine unglaubliche Entdeckung: Der Boden war mit fast völlig durchsichtigem Eis bedeckt, darunter sah man menschenähnliche Gesichter eingeschlossen, eines neben dem anderen. Als Z zum ersten Mal auftrat, hörte er einen dumpfen unheimlichen Schmerzensschrei. Erschrocken wich er zurück, doch wo er auch hintrat, überall die Rufe gepeinigter Wesen.
Als der Geologe einen Messstab in den Boden hämmerte, mussten sich alle die Ohren zuhalten, so markerschütternd und entsetzlich war der Todesschrei. Dazu ein reißendes Geräusch, als ob Fleisch zerteilt würde. Leichenblass und verstört stiegen die Männer wieder in ihren Landegleiter und flogen zurück zum Schiff. Keiner sprach ein Wort.
Doch die Menschen kehrten zurück auf den ertragreichen Planeten, den sie Yedar tauften. Die Arbeiter erhielten viel Geld für ihre Tätigkeit in den Bergwerken, denn die grauenhaften Schreie ließen sich kaum durch Kopfhörer dämpfen. Es war, als seien die Schreie in den Köpfen der Menschen. Auch Z war, einem unerklärlichen Trieb folgend, als einfacher Arbeiter auf den Planeten zurückgekehrt.
Nur mit einfachsten Werkzeugen grub er in den düsteren Höhlen von Yedar, Maschinen versagten seltsamerweise ihren Dienst in dieser Welt. Tagein tagaus hörte er die gellenden Schreie, die Geräusche berstender Schädelknochen und zerfetzter Haut. Doch nie hatte er Blut an den Händen. Immer waren noch wenige Zentimeter Eis zwischen ihm und den Gesichtern. Eines Tages hörte er ein so grausames saugendes Geräusch, als griffe er in ein lebendes Gehirn, dazu ein fast bis zur Tonlosigkeit schriller Schrei.
Da begann er selbst, unbändig und wie von Sinnen zu schreien. Als die anderen Arbeiter den Wahnsinn in seiner Augen sahen, begriffen auch sie. In unglaublich kurzer Zeit war der Raumhafen gestürmt, die Arbeiter besetzten die Schiffe und fuhren der Erde entgegen, um allen die neue Botschaft zu bringen, Yedars Traum. Z war zum ersten Mal seit langem glücklich.
Riesige Eislaufbahnen mit dem Eis von Yedar wurden überall gebaut und in den Sportstadien tanzten die besten Eisläufer der Welt. Z saß in der ersten Reihe und wusste plötzlich, dass er seine Prüfung bestanden hatte. Die Menschen schrien vor Wahnsinn, Yedars Geist hatte gesiegt.
Planet Funk – Who Said. https://www.youtube.com/watch?v=m0LBnimsYD8

Dienstag, 7. April 2015

Fragen

„Questions are a burden to others - answers a prison for oneself.“ (Aus: “Nummer 6”, Originaltitel “The Prisoner”, britische Fernsehserie aus den Sechzigern, Folge 1)
Die Warum-Frage bringt uns nicht weiter. Warum schmeckt eine Banane nach Banane? Keine Ahnung. Ist es wichtig? Nein. Sie schmeckt nach Banane, weil sie eine Banane ist. Die Was-Frage bringt uns nicht weiter. Was macht eine Wespe den ganzen Tag? Keine Ahnung. Wespen-Sachen eben. Die Wann- und Wo-Fragen bringen uns nicht weiter, wenn wir einfach – ruhig und gefasst – in unserem Ohrensessel sitzen bleiben und jeden Termin konsequent ignorieren. Die Wer- und Wie-Fragen können wir umgehen, indem wir die Tür unseres Hauses verschlossen halten. Wir sollten das Fragenstellen selbst in Frage stellen. Wer braucht Fragen, wenn er einen ausgezeichneten Single Malt und das Analog-Radio eines unterhaltsamen Selbstgesprächs in seinem Kopf hat?
P.S.: Es war bei einem der vielen Osteressen, bei denen ich mich im Nachhinein frage, wie es meine Venen überhaupt schaffen, diese Unmengen an Cholesterin durch meinen gewaltigen Leib zu pumpen, als ich neben einem dreizehnjährigen Jungen saß, der die ganze Zeit sein Smartphone in die Luft warf. Irgendwann fragte ich ihn, warum er das täte. Er antwortete mir, es gäbe eine kostenlose App, bei der man Punkte für das Hochwerfen des Smartphones bekäme. Und je häufiger und je höher er es werfe, desto mehr Punkte würde er bekommen. Die Leute von Apple und Samsung sind verdammt schlau, das muss man ihnen lassen.
P.P.S.: Noch eine schöne App – allerdings mit einem erfreulichen Hintergrund - finden Sie unter http://www.thenothingapp.com/

Erfindungen der Zukunft

Die Laysenbeck’sche Gravitationskanone, deren gebündelter Strahl die Schwerkraft eines Gegenstands oder einer Person für einige Sekunden aufheben kann.
Das intertemporale Hologramm, mit dem man in eine andere Zeit reisen kann, um zum Beispiel jemandem zum Geburtstag zu gratulieren, den man letzte Woche vergessen hatte.
Der Apple-Analog-Kommunikator aus veganem Material und echtem Graphit mit eingebauter Ratzefummelfunktion, der von nordkoreanischen Kindersträflingen zusammengebaut wird und in sieben Farben erhältlich ist. Das Produkt trägt den Namen „Liv“, benannt nach der legendären Liv Arnesen, die 1994 als erste Frau den Südpol erreicht hat – nur 83 Jahre nach ihrem Landsmann Roald Amundsen.
(Aus: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Zukunftswissenschaft)
Werbung: Er war nur ein einfacher Klempner, der einen Wasserhahn reparieren wollte. Doch dann traf ihn die radioaktive Wolke und er wurde: DER PERLATOR. Neu! Jetzt am Kiosk Ihres Vertrauens. Vom Erfolgsautor Andy Bonetti. DER PERLATOR – nur echt in der blauen Latzhose und den grünen Gummistiefeln. Textprobe: „Kennen Sie das Gefühl, wenn Ihnen ein Nierenstein durch die Harnröhre abgeht? Es ist, als ob man Ihnen ganz langsam einen Meter Stacheldraht aus dem Schwanz ziehen würde. Dieses Gefühl hatte ich, als ich ihn das erste Mal sah. Er war einer dieser Typen, die man eigentlich nur Samstagnacht auf der Herrentoilette einer usbekischen Autobahnraststätte treffen konnte. Aber jetzt stand er vor mir: DER PERLATOR. Mit seiner tiefen rauen Stimme sagte er: ‘Verchromt. Durchflussklasse A, Baby.‘“
The Isley Brothers - This Old Heart Of Mine. https://www.youtube.com/watch?v=U_9M6kRfJes

Montag, 6. April 2015

Putins Trollfabriken – Wie wir manipuliert werden

Das Wartezimmerblättchen Focus hat mal wieder knallhart recherchiert. Investigativer Journalismus tief im Kernland unseres Feindes. Sturmgeschütz der Mammographie oder so. Nach stundenlangen Intensivinterviews an einer russischen Hotelbar und auf ewig ungezählt bleibenden Kartoffelschnäpsen (wir sollten uns von den unaufhörlich einsickernden Elementen der gegnerischen Propaganda, damit meine ich Begriffe wie Wodka oder Wladimir, Wladimir heißt übrigens übersetzt Beherrscher der Welt, das habt ihr Putin-Versteher noch nicht gewusst, wetten?), aber weiter: sollten wir uns nicht, verdammt, jetzt noch eine schöne Formulierung am Satzende, einlullen, zu schwach, einkesseln, ja, das klingt nach Ukraine und Krieg, vielleicht auch: gehirnwaschen, nee, gibt’s nicht, brainwashen lassen. Oder so. Jedenfalls: Der Iwan führt einen heimtückischen Informationskrieg gegen uns.
Und so läuft die ganze Sache: Die gibt es ein Gebäude in Russland, wo morgens ganz viele junge Leute reingehen. Es hängt aber kein Firmenschild dran. Das muss die Trollfabrik sein. Uni? Nö. Ob ich drin war? Hey, ich recherchiere hier unter Lebensgefahr, Barkeeper, noch einen doppelten Wodka, aber ich habe zuverlässige Informanten. Der Focus beschäftigt keine Trolle, kapiert? „Die Arbeit in der Troll-Fabrik ist hart, das sagen alle Informanten. ‚Die Quote sind 135 Kommentare pro Zwölf-Stunden-Schicht‘, berichtet der ehemalige Mitarbeiter Marat Burkhard.“ Das sind elf Kommentare wie „Putin ist super“ oder „Der Westen ist so doof wie ein Toastbrot, echt, Mann!“ pro Stunde. Da kommt man kaum dazu, mal ein Red Bull zwischendurch zu trinken oder eine Zigarette zu rauchen. Solche menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen wären in unseren Fabriken in Bangladesch verboten. Kommentare kann man in Russland übrigens nur in verdächtig firmenschildlosen Fabriken abgeben, weil Russen zu Hause weder Computer noch Smartphone haben. Und Marat Burkhard ist ein typisch russischer Name. Ist jetzt nicht mein Praktikant oder so.
Der Hammer: „Die Bezahlung dürfte die Hauptmotivation sein, für die Troll-Fabrik zu arbeiten.“ Diese Schweine machen das alles nur für das viele Geld (720 Euro im Monat). Boah, das ist sooo schäbig! So könnte ich nicht leben. Wir beim Focus, übrigens das Sturmgeschütz der Antipathie, arbeiten ausschließlich für die gute Sache (Westen). Aber so ist der Iwan, gib ihm ordentlich einen Schnaps nach dem anderen an der Hotelbar aus, steck ihm noch einen Zehner in die Jackentasche und schon plaudert er alles aus. Nähkästchen nix dagegen! Richtig fies finde ich auch, dass die Trolle von Kameras überwacht werden. Wie sollte man auch sonst rauskriegen, was die Trolle so schreiben? Nachher posten die Sachen wie „Bayern München ist super“ und „Sascha links von mir liebt Ludmilla schräg vor mir“. Außerdem setzen die Russen auch Bots ein, das sind riesige Roboter, die den ganzen Tag „Ich bin der Größte“ brüllen und damit die öffentliche Meinung in Oklahoma und im Saarland total manipulieren. Wenn die Leser diese merkwürdigen russischen Buchstaben entziffern könnten und diese komische Iwan-Sprache verstünden. Die Leute werden nämlich durch Medien manipuliert und so (außer durch den Focus natürlich)!
Aber es kommt noch härter: Ich „gehe davon aus, dass etwa ein Dutzend deutschsprachiger Trolle von der Schweiz aus operiert“. Jetzt werden wir also auch noch in unserer Muttersprache manipuliert. Und die Alpentrolle bekommen noch nicht mal Geld dafür! Es handelt sich um echte Überzeugungstäter – und das sind bekanntlich die schlimmsten. Diese Strategie erinnert mich „an eine Sowjet-Taktik aus dem Kalten Krieg: ‚Zersetzung‘ als psychologische Kriegsführung. ‚Standpunkte erschüttern, Zweifel und Misstrauen säen, diskreditieren, Streit schüren‘ – darum gehe es bei Putins Informationskrieg in Wirklichkeit.“ Sagt Ihnen: Ihr Schlumpfgeschwür der Hagiographie.
http://www.focus.de/politik/ausland/propaganda-auf-bestellung-so-funktionieren-putins-troll-fabriken_id_4592188.html
P.S.: Also gut, ich gebe es zu. Ich war noch nie in Russland. Ich kenne auch keinen Russen persönlich und in der Schule habe ich nur Englisch gelernt. Das ganze Quellenzeug habe ich aus anderen Zeitungen und dem Internet. Wir können uns doch beim Focus gar keinen investigativen Journalismus oder Dienstreisen leisten. Wir stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand! Kaufen Sie bitte trotzdem unsere Münchner Infografiksammlung. Wenn alle Deutschen diese Woche den Focus kaufen, gibt’s irgendwann auch wieder Qualitätsjournalismus. Und ich, der von 8,50 € Mindestlohn nur träumen kann, müsste nicht für eine Praktikumsbescheinigung in Zwölf-Stunden-Schichten solche Texte schreiben. In Unterhosen vor meinem eigenen Notebook in Gütersloh. Mit nur noch einer Kindermilchschnitte und einem angebissenen BiFi im Kühlschrank.
Sönke „Marat“ Burkhard
Buffalo Springfield - For What It's Worth. https://www.youtube.com/watch?v=gp5JCrSXkJY
Werbung: „Der Experte – Glanz und Elend einer Medienkurtisane“ von Andy Bonetti. Jetzt in der Bahnhofsbuchhandlung Ihres Vertrauens.