Dienstag, 21. Mai 2024

Alles zu jeder Zeit?

 

Eine der großen Mythen unserer Zeit ist die permanente Verfügbarkeit und Erreichbarkeit. Technisch ist es kein Problem, Handy und Internet machen es möglich, immer und überall erreicht werden zu können. Diese Vorstellung hat sich so tief in unser Bewusstsein eingeprägt, dass wir glauben, permanent reagieren zu müssen. Wenn man eine WhatsApp nicht innerhalb von fünfzehn Minuten beantwortet, kommt die nächste. Was ist los? Möglicherweise wurde auch schon ein Notarzt gerufen.

Aber stimmt das wirklich? Es gibt eine Korrelation zwischen Status und Erreichbarkeit. Je tiefer man in der beruflichen Hierarchie steht, desto höher ist die Erwartung an die persönliche Erreichbarkeit. Mit jeder Hierarchiestufe nach oben nimmt die Erreichbarkeit ab. Die Bosse sind durch eine Phalanx von Sekretärinnen, Assistenten und Pressesprechern hermetisch abgeschirmt. Es gehört zu ihren Privilegien, über ihre Erreichbarkeit selbständig entscheiden zu können.

Der Befehlsempfänger muss auch nach Feierabend und am Wochenende verfügbar sein. Aber versuchen Sie mal, ihren Haus- oder Facharzt außerhalb der Sprechzeiten zu erreichen. Oder versuchen Sie mal, nachts einen Notartermin zu bekommen. Professoren legen Ort, Zeitpunkt und Dauer ihrer Ansprechbarkeit fest. Stellen Sie sich vor, es wäre Sonntagnachmittag und es klingelt an der Haustür. Der Prof öffnet und vor ihm steht ein Student. „Herr Müller, warum haben Sie mir für meine Hausarbeit nur eine 3 gegeben? Das verstehe ich nicht. Können wir jetzt darüber sprechen?“ Wie reagiert der Prof? Variante 1: „Herein, herein, werter Herr Student. Wir können die Hausarbeit gerne in Ruhe durchsprechen. Hermine! Machst du uns Kaffee und Schnittchen, das könnte länger dauern.“ Variante 2: „Woher haben Sie meine Privatadresse? Verlassen Sie sofort mein Grundstück oder ich hole die Polizei.“

Es geht nicht um technische Möglichkeiten, es geht um Höflichkeit, Respekt und ganz allgemein um angemessene Umgangsformen. Wer am Samstag seinen Vorgesetzten unter der Privatnummer anruft, weil er gerade eine zündende Geschäftsidee hat, die unbedingt jetzt gleich aus dem Plärrloch herausmuss, bekommt folgendes zu hören: „Kommen Sie am Montag in mein Büro und holen Sie sich Ihre Papiere ab. Sie sind fristlos entlassen.“ Wer um Mitternacht seinen Kunden anruft, hat einen Kunden weniger.

Warum hatte die Generation meiner Eltern keinen Burn-Out? Weil sie klar zwischen Berufs- und Privatleben, zwischen Arbeit und Familie trennen konnte. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, so sagte man damals. Heute ist Burn-Out ein Massenphänomen, weil viele glauben, diese Grenzen nicht mehr respektieren zu müssen.

 

2 Kommentare:

  1. Schöner Beitrag. Literatur zu diesem Thema gibt es zur Genüge. Ändern wird sich nix.

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    1. https://www.buecher.de/artikel/buch/alles-zu-jeder-zeit--die-staedte-auf-dem-weg-zur-kontinuierlichen-aktivitaet/27815262/

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