Thorsten
war der einzige Junge mit einem Bonanza-Rad. Er lebte mit seiner Mutter im
Nachbarhaus. Wir waren beide Scheidungskinder. Das machte uns 1975 zu den
Outlaws im Block. Er hatte die gleichen hellblonden Haare wie seine Mutter, die
einen verwegenen Kurzhaarschnitt hatte und eine Ente fuhr. Seine Babyschuhe
baumelten unter dem Rückspiegel, das wäre mir peinlich gewesen. Einmal war ich
mit Thorsten und seiner Mutter nach der Schule in einem Einkaufszentrum. Weil
ich zum Essen nicht zuhause war, hat mich meine Mutter von der Polizei suchen
lassen. Das war noch viel peinlicher.
Ich
kann mich noch genau erinnern, wie ich zum ersten Mal sein Fahrrad fahren
durfte. Auf der anderen Seite der Rheinstraße, die unser Viertel teilte. Ich
fuhr am „blauen Haus“ los, dem Hochhaus, in dem Jan wohnte. Ich fuhr einmal um
den ganzen Block, an anderen Hochhäusern vorbei, an unserer Grundschule und am
Sportplatz, bis ich wieder bei Thorsten war. Ein irres Gerät! Ich fuhr an ihm
vorbei noch eine zweite Runde. So schnell ich konnte, raste ich die Straße
entlang, bevor ich es ihm zurückgab.
Damals
waren die Hochhäuser noch ganz neu, vielleicht zehn Jahre alt. Hier vegetierte nicht die Unterschicht vor sich hin, hier lebte die
Wirtschaftswundergeneration, die Angestellten, Leute, die aufsteigen wollten
und ein paar Jahre später mit ihren Familien in neu gebaute Einfamilienhäuser
zogen, als unsere Kleinstadt um den nächsten Jahresring erweitert wurde. Hier
wuchsen Kinder auf, die später einmal Studienräte und Chemiker, Anwälte und
Ärzte werden sollten. Wir träumten davon, Fußballspieler und Astronauten zu
werden, und wir glaubten, dass man es schaffen kann.
Neben
Thorsten hatte ich drei andere Freunde aus meiner Klasse, mit denen ich mich
nachmittags traf. Ein Rudel junger Hunde, das ständig im Viertel unterwegs war,
Fußball spielte oder irgendwelche Sachen ausheckte. Am Stadtrand gab es
Baustellen, auf denen wir uns herumtrieben, wenn die Arbeiter Feierabend
gemacht hatten. Wir bauten Sandburgen, warfen Backsteine in leere
Treppenschächte und suchten nach Zeug, das man klauen konnte.
Unser
Anführer war Branislaw, den alle nur Bané nannten. Ein Jugoslawe, dessen Eltern
ein Restaurant namens „Dalmatiner Stuben“ hatten. Er wohnte im
„Tengelmann-Haus“, einem Hochhaus direkt an der Rheinstraße, in dessen
Erdgeschoss ein Supermarkt war. Das Restaurant war direkt daneben. Seine Eltern
fuhren einen dicken Ford Granada, während andere noch im Kadett oder im Käfer
unterwegs waren.
Vor
dem „Tengelmann-Haus“ war auch „Urmes“, ein Laden, wo man Spielzeug,
Süßigkeiten, Comics, Schulhefte, Stifte, Uhu und Füller kaufen konnte. Es gab
Weingummiteile für zwei Pfennig das Stück und Wassereis für zehn Pfennig. Ich
kaufte mir schachtelweise Plastiksoldaten, in meinem Kinderzimmer war immer
Zweiter Weltkrieg. Der alte Urmes hatte einen Zigarrenstumpen im
Mundwinkel, redete nicht viel und sackte unser komplettes Taschengeld ein.
Jan
hatte eine Menge Phantasie. Er konnte ein Loch im Boden sehen und uns erzählen,
dass er von einem Schatz gehört habe, der in einer Höhle unter dem Loch
verborgen sei. Sein Vater war ein brutales Schwein, das ihn wegen jeder
Kleinigkeit geschlagen hat. Und dann gab es einen kleinen schüchternen Jungen
namens Martin, den alle nur Miniballa nannten. Ich habe nie erfahren, wie er zu
diesem Namen gekommen war, aber ich habe auch nicht gefragt. Bis auf Bané
arbeiteten alle Eltern in der Fabrik, die direkt an unser Viertel grenzte.
Der
erste Ausländer – Bané zählte nicht – war ein Engländer namens Steven. Als er
in unserer Klasse vorgestellt wurde, haben wir ihn alle ausgelacht. Wir dachten, sein
Name wäre Sieben. Es dauerte eine Weile, bis er unsere Sprache verstand, und
wir zogen ihn immer damit auf, dass er keine Umlaute aussprechen konnte. „Hey,
Steven, sag mal Düsentriebwerk“ und er sagte „Dusentriebwerk“. Totsicherer
Lacher. Als er uns die Geschichte der Titanic erzählte, waren wir begeistert.
Er musste jedem von uns ein Bild des untergehenden Schiffs malen. Später waren
wir befreundet. Er hatte eine Kiste mit Matchbox-Autos, auf die er „BMV“
geschrieben hatte. Als ich ihn fragte, was es bedeutet, antwortete er, er sei
BMW-Fan. Ich habe ihn nicht verbessert.
Unser
Block bestand aus vier Sechs-Familienhäusern. Dazwischen waren eine Wiese und
ein Spielplatz. Sandkasten, Rutsche, Wippe, Schaukel. Damals war hinter unserem
Block die Stadt zu Ende. Als wir einzogen, war noch nicht einmal die Straße
geteert. Und am Ende der Straße begann der Wald, in dem uns niemand stören
konnte, wenn wir mit unseren Streichhölzern gezündelt haben oder mit unseren
Taschenmessern aus Weidenruten gefährliche Waffen machten. Ich höre heute noch
das Rauschen in den Bäumen, wenn ich an diese Zeit zurückdenke.
Die Sterne - Was hat dich
bloß so ruiniert - Studio Version - YouTube
Weil es halt erhalten bleiben soll:
AntwortenLöschenRoberto de Lapuente macht jetzt Trixie von Storch Konkurrenz!
Jürgen so am 8. Dezember 2020 1:43:
Mensch, Roberto, was wünscht Du dir denn jetzt von der Linken? Pressemitteilungen dass Seuchenbekämpfung böse ist? Mitlaufen mit irgendwelchen Querfühlerdemos? Quengeln dass eine Maske die Freiheit einschränkt?
Darauf Roberto am 8. Dezember 2020 6:03:
Dass sie den vermeintlichen Schutz des Lebens nicht zu jedem Preis einfordert.
Hallellullja!
Freiheit wird als Begriff gerne genutzt, wenn es um Egozentrismus und Hedonismus geht. Kennt man ja auch von "Freie Fahrt für freie Bürger" aus der Porsche/FDP-Fraktion.
LöschenUND, bei mir war´s ganz anders ... weil ich ein Mädchen bin:
AntwortenLöschenhttps://www.youtube.com/watch?v=qTrXRN7jBsE *tja*
Das will ich jetzt aber ein bisschen genauer wissen.
LöschenBist du Dir da sicher, dass da ein Wald war? Irgendwo an Ingelheim? Müsste es nicht heißen: "begann das, was wir Wald nannten"?
AntwortenLöschenWenn aber doch, dann hat sich Deine erinnerte Gegend stark zu ihrem für Kinder ungeeigneten Nachteil verändert.
Ich habe in der Unteren Muhl gewohnt, der kurzen Straße zwischen Rheinstraße und Waldstraße. Und wie der Name schon sagt, war an der Waldstraße ein Wald. Allerdings war er so klein, dass er den Namen kaum verdient hat. Auf diesem Gebiet entstanden später die Tennisanlage des TC Boehringer, die Reithalle und die Kegelbahn. Kann aber auch sein, dass ich Dinge durcheinander bringe. Deine Formulierung kommt der Wahrheit sicher näher ;o)
LöschenWissbegierde gestillt.
LöschenWir 60er, bis ca. 68, dann wirkte sich der Pillenknick aus, waren richtig viele.
AntwortenLöschenGanze Kinderhorden bevölkerten die Wiesen, Fußballplätze und Straßen.
Wenn ich mir heute die wenigen noch vorhandenen Bolzplätze so anschaue muß ich sehen, daß vor dem Tor Gras wächst. Früher war im Umkreis von 10 Meter um das Tor Steppe, kein einziger Halm zeigte sich.
Die Jahrgangsklassen gingen bis G. Also 9a/9b/9c/9d/9e/9f/9g. Und alle Klassen mit über 30 Nasen.
Und als dann endlich alle 18 waren kamen die Motorräder in`s Spiel. Vor den einschlägigen Kneipen das reinste Motorradtreffen. Ganze Reihen mit Maschinen. Wahnsinn!
Und der Arbeitsmarkt hat diese Masse spielend aufgesogen, auch so ein Ding.
Ja, in jedem Haus gab es massenhaft Kinder. Später entdeckten wir, dass es auch massenhaft Kneipen gab. Heute dominieren die Restaurants, weil die geburtenstarken Jahrgänge alt geworden sind.
LöschenJa, so war das früher. Die Schneeberge waren meterhoch.
LöschenDa wurde im Zug noch geraucht und gesoffen!
Die Kanzler hiessen Helmut S. oder Helmut K. und nicht "Ändschie" . Ministerpräsidenten und Fussballkapitäne hiessen Franz.
Auf die Wunden gabs Iodtinktur statt Octenisept für die Weicheier .
Franz Walter Steinmeier....nein...natürlich Frank.
Löschen