Donnerstag, 7. Juni 2018

IG GAGA

„Komm schon. Beim letzten Mal hast du Ja gesagt.“ Henry lachte.
„Ich habe nur gesagt, dass ich es mir überlege“, antwortete Stefan.
Die beiden standen im Fahrstuhl. Wiener Straße, Kreuzberg. Feierabend.
„Wann warst du zum letzten Mal im Park?“
Henry sprach einen wichtigen Punkt an. Seit Jahren war er nicht mehr auf der anderen Straßenseite im Görlitzer Park gewesen. Nachdem die Drogenszene von der Polizei vertrieben worden war, hatten sich die christlichen Sekten den Park unter den Nagel gerissen. Tagsüber veranstalteten sie dort ihre Treffen, nachts war der Park gesperrt. Drogen gab es jetzt am Mariannenplatz zu kaufen.
„Samstag gibt es das Abendmahl mit Tofu-Hot Dogs und Riesling.“ Henry ließ nicht locker.
„Vielleicht komme ich mit“, sagte Stefan.
„Ich kann ja mal bei dir klingeln. Kostet ja nichts.“
Dann stiegen sie aus dem Fahrstuhl und gingen in ihre Wohnungen, die sich auf dem gleichen Stockwerk gegenüber lagen.
Am Abend dachte Stefan über die ganze Sache nach. Viele Menschen waren Mitglieder der neuen Sekten geworden. In Berlin war die IG GAGA die Sekte, die am erfolgreichsten in der Anwerbung neuer Anhänger war. Die Abkürzung stand für „Internationale Gemeinschaft – Glauben an God Allmighty“.
Die Mitgliedschaft war kostenlos und er würde endlich mal wieder in den Park kommen. Außerdem könnte er dort Johanna treffen. Sie arbeitete in derselben Abteilung bei Percy Hempel & Tochter in Britz wie er. Sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Die IG GAGA war auch politisch aktiv. Bei der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus hatte sie sieben Prozent bekommen. Sie versprach ein Ende des Egozentrismus und der Ellbogengesellschaft. Sie setzte sich gegen den Islam ein, war aber nicht rechts. Das gefiel Stefan.
Am Samstag ging er mit Henry in den Park. Auf dem Weg dorthin wurden sie von einer Aldi-Drohne geortet, die sich sofort auf sie stürzte. Sie flog dicht über ihren Köpfen und plapperte Werbesprüche und Sonderangebote vor sich hin. Diese Biester ließen sich nicht abschütteln. Zum Glück waren die Werbedrohnen nur auf öffentlichen Straßen und Plätzen erlaubt, nicht bei religiösen und politischen Veranstaltungen.
Im Görlitzer Parkt wehte das Banner der IG GAGA auf einem hohen Mast, unter dem sich hunderte Menschen versammelt hatten. Henry stellte Stefan dem Priester und anderen Sektenmitgliedern vor. Er wurde von vielen Menschen umarmt, alle lächelten ihn an.
Er würde für immer zu ihnen gehören. Er war nicht mehr allein.