Sonntag, 29. November 2015

Anreise

„Der wahre Reisende weiß nicht, wohin die Reise geht.“(Zhuangzi)
Es ist immer die gleiche Geschichte: Du erwartest nichts – und genau das ist die Voraussetzung für ein schönes Erlebnis. Seit einem Vierteljahrhundert sitze ich im Zug zwischen Rheinhessen und Berlin. Hinter Frankfurt kommt irgendwann Fulda. Gefühlte tausend Mal bin ich mit dem ICE in diese Stadt gekommen und blieb einfach sitzen, bis der Zug wieder weiterfuhr. Diesmal bin ich ausgestiegen. Was fällt mir spontan zu Fulda ein? Nichts. Eben. Und dann steht man nach ein paar Minuten vor einem prächtigen Stadtschloss, überquert einen großzügig angelegten Platz und besichtigt den nicht minder prächtigen Dom.
Besonders hat mir eine Figur links vom Altar gefallen: ein Skelett mit einem wallendem Umgang, in der einen Hand die Schreibfeder und in der anderen die Sanduhr. Hallo?! Hier winkt dem Blogger nicht nur ein Pfahl, sondern der ganze Zaun. Gekrönt wurde der sonnige Herbsttag durch zwei Krüge Wiesenmühlenbier (nicht das Pils!) und einen hiesigen Kümmelschnaps in der urgemütlichen alten Wiesenmühle an der Fulda. Tolle Stadt – die ideale Reiseunterbrechung. Und drei Stunden später rolle ich in Berlin ein …
Im Zug lauschte ich erzwungenermaßen dem Gespräch zweier Frauen mittleren Alters. Es ging um ihre Haare bzw. Frisuren an sich. Müßig in die Sonne blinzelnd und bierselig machte ich folgende Rechnung auf: Wenn sich eine Frau im Durchschnitt dreißig Minuten pro Tag mit ihren Haaren beschäftigt (Kämmen, Tönen, Friseurbesuche, Nachdenken und Reden über die eigene Frisur und die Frisuren anderer Leute), sind das im Jahr etwa 180 Stunden, also mehr als eine Woche. Geht man von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von achtzig Jahren aus, verbringt eine Frau also mehr als eineinhalb Jahre mit dem Thema Haare. Diese Zeit haben wir Männer gespart. Dazu kommen noch einmal eineinhalb Jahre für die richtigen Klamotten, ein Jahr für die Schuhe, ein halbes Jahr für das Make-up und ein halbes Jahr für die Fingernägel. Auch wenn wir früher sterben mögen als die Frauen, so haben wir doch nicht weniger vom Leben gehabt, oder?
Meine erste Freundin konnte stundenlang über ihre Haare sprechen / klagen. Und ich Idiot habe ihr stundenlang zugehört, obwohl sich Männer doch nur für die primären und sekundären, nicht aber für die tertiären Geschlechtsmerkmale (Frisur, Schmuck, Make-up usw.) interessieren. Zum Glück habe ich noch einige Frauen kennengelernt, die ganz anders sind.
***
Heute bin ich wieder in Schweppenhausen angekommen. Ein paar Berlin-Impressionen:


Ein trüber Novembernachmittag im MV. Die Jungs im 120er Bus kommen vom Sport und reden über Suff, Drogen, Partys und Bullen. Eine angenehme Melancholie liegt über dem Kiez und ich stelle mir vor, ich käme nach zehn Jahren Knast wieder nach Hause.

 Nach den Anschlägen in Paris gehen die Menschen sehr behutsam miteinander um. Die Folge ist nicht, dass die Leute Angst voreinander haben, sondern dass sie aufmerksam zueinander sind.

Am Ende der Welt in Buch. Die winzige Fußgängerzone. Gesprächsfetzen wie „zu DDR-Zeiten“ oder „wie im Sozialismus“ (als Lob gemeint). Mit einer Tüte heißer Quarkbällchen warte ich auf die S-Bahn zurück zu den Yorckbrücken. Dort steht ein einsames Haus mitten im größten Verkehr, das mich immer wieder fasziniert. Im Erdgeschoss die Kneipe „Zum Umsteiger.“

Die Anglizismen werden immer alberner, das Feierabendbier heißt jetzt „After-Work-Get-Together“.

Im Wedding gibt es eine Türkenstraße.

In der S-Bahn sitzen mir ein Mädchen und ihr Opa gegenüber. Der Opa hat ein Piratentuch auf dem Kopf, einen Zopf, zerrissene Jeans, Turnschuhe und eine schwarze Lederjacke. Ein Traum. Ich erwarte mir von der jungen Generation in Berlin nur das Allerbeste.
The Cure - A Forest. https://www.youtube.com/watch?v=xik-y0xlpZ0

2 Kommentare:

  1. Bist du dir sicher, dass es der Opa und nicht der Vater gewesen ist? ^^

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  2. Könnte natürlich sein, dass sie ihren Papa "Opa" nennt. Das komplexe Universum des Pre-Teen-Slangs hat sich mir noch nicht erschlossen ;o)

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