Dienstag, 24. November 2020

Allem Anfang wohnt ein Grauen inne

 

Montagmorgen, sieben Uhr. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Der Himmel hatte die Farbe von nassem Beton. Moabit. Ein alter, verwitterter Bau. Ich ging durch die Toreinfahrt und sah mich um. Vor mir lag eine Halle. Ich ging hinein und sah die endlosen Regalreihen. Auf der linken Seite war ein Glaskasten. Dort saß ein Mann an einem Schreibtisch. Ich klopfte an. Er sah von seinen Papieren auf und winkte mich herein.

„Guten Morgen. Ich soll mich hier melden.“

Er hatte einen grauen Kittel an, graue Haare, graues Gesicht. „Sie sind der Neue?“

Ich betrachtete mir das Büro. Ein Schrank mit Aktenordnern. Auf dem Tisch Ablagekörbe mit Formularen, Bleistifte, Radiergummi, Büroklammern. Kein Computer.

Er nahm eine rechteckige Karte vom Tisch und stand auf. „Kommse mal mit!“

Ich folgte ihm nach draußen.

„Das ist ihre Karte. Und hier stempeln Sie jeden Morgen ab, wenn Sie kommen, und jeden Abend, wenn Sie gehen.“

Dann drückte er mir die Stempelkarte in die Hand. Ich zögerte. Er sah mich an. Dann verstand ich. Ich stempelte die Karte und steckte sie in ein freies Fach.

„Jetzt bringe ich Sie zu einem Kollegen, Herrn Hanke. Der wird Ihnen alles zeigen.“

Herr Hanke hatte eine Halbglatze und einen gewaltigen Bauch. Er musste über fünfzig sein.

„Du bist der Neue? Dann komm mal mit.“

Er zeigte mir die einzelnen Abteilungen in der Halle. Hier waren Werbebroschüren, Plakate, T-Shirts und alle möglichen Sachen in den Regalen gestapelt, die von verschiedenen Filialen einer Baumarktkette zu Werbezwecken angefordert wurden. Es gab sogar Schlüsselanhänger mit Miniaturschraubenziehern.

„Pass mal auf. Von mir kriegst du einen Bestellzettel, da steht drauf, von welcher Artikelnummer du wie viele Sachen holen sollst. Dann bringste das Zeug zur Verpackungsstation und packst es ein. Adresse steht auch aufm Bestellzettel. Verstanden?“

Wenig später ging ich mit einem Wägelchen durch die Regalreihen und machte meine erste Bestellung fertig. Es dauerte ewig, bis endlich Mittagspause war.

Ich ging zu Hanke und fragte ihn: „Wo ist denn hier die Kantine?“

Hanke lachte und blökte durch die Halle: „Habt ihr das gehört? Er fragt, wo die Kantine ist. Mensch, Neuer, das Offizierscasino wird gerade renoviert. Aber gegenüber ist eine Pommesbude. Sozialraum ist da hinten links.“

Die anderen Arbeiter trabten in den Sozialraum. Ich hatte nicht an etwas zu essen gedacht, also ging ich an die Pommesbude auf der anderen Straßenseite. Hier standen schon einige ältere Männer in grauen Kitteln. Ich bestellte mir zwei Currywürste mit Darm, Pommes rot-weiß und eine Cola.

Während ich aß, dachte ich nach. Es war erst Montagmittag und das Wochenende noch endlos weit weg. Die ersten sechs Monate war Urlaubssperre. Wie sollte das weitergehen? Jeden Tag arbeiten? Woche für Woche? Womöglich Jahre? So kann es nicht weitergehen. Es muss eine andere Möglichkeit geben, um an Kohle zu kommen.

Nach einer halben Stunde ging ich zurück in die Halle.

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4 Kommentare:

  1. Du hast wenigstens was zu tun. Viel schlimmer ist es, so tun zu müssen, als hätte man was zu tun, weil jederzeit was Vorgesetztes auftauchen kann. Da werden die Minuten zu Stunden!

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  2. ... übernimm doch die Pommes Bude,
    haste immer die Maloche vor Augen,
    den Bauch voll,
    schreiben kannste,
    tagträumen tuste
    und Kohle machste noch dazu ... ;D *WELTIDEE*

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    1. Super! Und die Leute erzählen mir ihre Geschichten und ich hab immer neues Material für den Blog. Ist nämlich gar nicht so einfach, wenn man die ganze Zeit nur Nebel sieht ;o)

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  3. Hat einer Knechtschaft sich erkoren,
    ist gleich die Hälfte des Lebens verloren.

    Johann Wolfgang von Goethe

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