„Das Leben ist eine Komödie für den Reichen, ein Spiel für den Narren, ein Traum für den Weisen, ein Trauerspiel für den Armen.“ (Scholem Alejchem)
Ich möchte heute von zwei Frauen berichten, die im nächsten Jahr vierzig Jahre alt werden. Ich kenne sie persönlich und ich weiß schon bei diesen ersten Sätzen, dass ich ihren Zorn erwecken werde. Möglicherweise auch den Zorn anderer Frauen und das Desinteresse meiner männlichen Leserschaft. Ich werde sie so zeichnen, dass sie nur sich selbst erkennen, aber nicht von anderen erkannt werden. Genug.
Beide Frauen sind schön und klug. Das verbindet sie. Gleichzeitig könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Die eine ist ruhig, um nicht zu sagen: brav und aus gutem Hause. Hellblondes Haar und blaue Augen. Ihr Herbstanfang ist sanft und still. Die andere ist wild und voller Energie. Schwarze Haare, schwarze Augen, ein Piratenlachen. Sie stammt aus einer Arbeiterfamilie. Im Gegensatz zur anderen Frau spürt sie, dass nun die ersten Tage im Herbst ihres Lebens anbrechen. Sie wehrt sich, sie kämpft.
Nadine kommt nach Hause. Sie hat pünktlich Feierabend gemacht und ist mit der Straßenbahn in ihren Vorort gefahren, wo sie eine hübsche kleine Mietwohnung in einem gepflegten Mehrfamilienhaus bewohnt. An der Tür empfängt sie ungeduldig ihr Hund. Er ist aus dem Tierheim, sehr lebhaft, fast ein bisschen frech, aber sie freut sich jeden Abend auf diesen Empfang. Sie ist seit einigen Jahren Single. Hochzeit, Familie? Davon hat sie mit fünfzehn oder zwanzig geträumt, aber sie hat die Hoffnung aufgegeben. Sie ist das einzige Kind eines Rechtsanwalts und einer Studienrätin, die immer noch nicht begreifen können, warum sie nie ein Enkelkind auf dem Schoß haben werden.
Nadine war immer ein aufgewecktes Kind gewesen. Keine Probleme in der Schule, keine Drogen, keine Eskapaden. Das Studium hatte sie mit Bravour bewältigt, ihre Eltern hatten ihr sogar ein Jahr an einer amerikanischen Universität finanziert. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über einen deutschen Dichter aus dem 18. Jahrhundert. Bis Anfang dreißig hatte sie eine halbe Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni, dann hangelte sie sich ein paar Jahre mit Hospitanzen (von lateinisch hospitari: ‚zu Gast sein') und Praktika durch Verlage, Redaktionen und Kulturprojekte. Oft waren es mehrere Jobs gleichzeitig. Jetzt hat sie ihre erste Festanstellung als Pressesprecherin einer Berufsgenossenschaft. Sie verfasst zwei Pressemitteilungen im Monat über Gesellenprüfungen im Handwerk oder eine Fachmesse, zu denen es nie Rückfragen von der Presse gibt. Das war’s. Mehr wird es vermutlich auch nicht mehr werden.
Sie hat die unbequemen hochhackigen Schuhe ausgezogen und das Businesskostüm über einen Bügel gehängt. Sie setzt sich auf das schneeweiße Ledersofa, das sie als Geburtstagsgeschenk von ihren Eltern bekommen hat. Ihr Hund kuschelt sich an sie, während sie die drei Anfragen auf Tinder liest, die sie nicht beantworten wird. Dann geht sie in die Küche und isst ein Brot mit veganem Aufstrich und eine Nektarine. Im Winter möchte sie mit einer Studienfreundin, die ebenfalls Single ist, eine Woche zum Skilaufen nach Österreich fahren. Sie ist zufrieden und würde man sie fragen, ob sie glücklich ist, würde sie ohne zu zögern mit Ja antworten.
Laura war ein Jahr arbeitslos. Jetzt hat sie einen Zeitvertrag in einer Redaktion in Aussicht. Sie wird umziehen müssen, aber es wäre nicht ihr erster Umzug. Sie hat eine kleine und äußerst günstige Wohnung in einer Mietskaserne in Bahnhofsnähe. Ihren letzten Freund hat sie schon im vergangenen Jahr aus der Wohnung geschmissen. Sie ist nach ihrem Realschulabschluss aufs Gymnasium gewechselt und hat 18 Semester Sozialwissenschaften studiert. Sie hat als Kellnerin und als Call-Center-Agent gearbeitet, Artikel für ein lokales Szene-Magazin und Texte für ihr Blog geschrieben. Die Frage nach einer eigenen Familie hat sie dem Schicksal überlassen. Karma nennt sie das. Sie geht einmal in der Woche zum Yoga.
In diesem Jahr der Arbeitslosigkeit hat sie vieles ausprobiert. Sie hat sich ein Longboard gekauft und ein vierzehnjähriger Junge aus der Nachbarschaft hat ihr auf dem Parkplatz des nahen Supermarkts gezeigt, wie man es fährt bzw. „skatet“. Sie hat sich eine Nähmaschine gekauft und einen Kursus bei „Moni’s Nähtreff“ belegt. Sie hat an der Volkshochschule zwei Kurse belegt: Spanisch und Roman-Schreiben. Sie träumt von einer Reise nach Buenos Aires und hat keinen Roman geschrieben. Sie hat in Portugal einen Surfkurs gemacht und war kurzzeitig einem von Tschibo ausgelösten Deko- und Schmuck-Bastelwahn verfallen.
Sie hat in einem Buch gelesen, dass man sich von überflüssigen Dingen trennen sollte. Also hat sie jeden Gegenstand in ihrem Haushalt in die Hand genommen und sich laut gefragt „Macht mich das glücklich?“ Danach war ihre Wohnung relativ leer und sie hat begonnen, Sperrmüll mit nach Hause zu bringen, denn die Leute werfen schließlich viel zu viel weg, ihrer Meinung nach. Auf Fragen zu ihrem Leben reagiert sie gereizt oder sie wechselt das Thema.
So kommt der Herbst. Ganz unaufdringlich und unbemerkt. Ohne Spektakel, ohne Skandal, ohne Schlagzeilen. Die Tage gehen dahin, die Blätter verfärben sich. Und eines Tages ist es vorbei. Ebenso wie diese kurze Beschreibung endet, zu der ich mir kein abschließendes Urteil erlauben möchte.
John Coltrane – Equinox. https://www.youtube.com/watch?v=5m2HN2y0yV8
Wie jede Jahreszeit hat auch der Herbst seinen eigenen Charm. Mir ist es gelungen, im Herbst, weniger zurück und weniger nach vorne zu schauen. Der Herbst ist meine Zeit für das Hier und Jetzt. Ich werde den Herbst feiern. Mein Herbst, ist für die Spröslinge die Zeit im Gewächshaus, in dem sie auf ihren Frühling warten.
AntwortenLöschenSo isses! Der Blick von außen auf ein Leben zeigt nur einige Facetten, nie das ganze. Es gibt keine Garantie für Erfolg, auch wenn man schlau ist. Aber der einzige, der das eigene Leben nachhhaltig ändern kann, ist man auch selbst. Du willst es so nicht? Dann ändere es!
AntwortenLöschenWieso eigentlich Herbst ??
AntwortenLöschenIch fühlte mich in dieser Zeit im Zenit meines Lebens.
Ich war auch körperlich fitter als mit 30, besser trainiert und leistungsfähiger, gesünder, und mehr Kohle hatte ich auch. Ach ja, man hatte auch noch mehr Freunde.
Im Alter macht man weniger Kompromisse, da schmeißt man auch mal einen aus den Haus, der dann nie wieder kommt.
Würde eher sagen Spätsommer.
OK OK , bin ja keine Frau
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