„Das Ungewisse ist wie flüssiges Metall, es kann uns sengend durchlöchern.“ (Hans Henny Jahnn: Fluss ohne Ufer)
Das silberne Funkeln der Wellen. Sonnenaufgang über der Spree. Fortuna, die blinde Göttin des Zufalls, hatte das Rad des Schicksals gedreht und seine Privatapokalypse heraufbeschworen. Er überquerte den Fluss und ging die Friedrichstraße entlang.
Der Mann mag mittleren Alters gewesen sein. Kein Gesicht, an das man sich erinnern muss. Die Farbe seines Anzugs erinnerte an das Fell eines Maulwurfs. Er taumelte, er fühlte sich schwach und war müde. Zu Tode erschöpft. Aus den Wagen, die an ihm vorbeifuhren, trafen ihn erschrockene, besorgte und amüsierte Blicke. War er krank, hatte er einen Unfall gehabt oder kam er gerade von einer nächtlichen Tour durch die Berliner Kneipen?
Blut sickerte aus einer Wunde an seiner Stirn, ein Ärmel seines Jacketts war eingerissen, das schmutzige und zerknitterte Hemd hing ihm aus der Hose. Die zerschlissene Krawatte baumelte offen um den geöffneten Kragen, die Schuhe waren abgewetzt und löchrig. Sein Gesicht war aschfahl, seine Lippen blutleer. Während er sich mühsam vorwärts schleppte, schien sein Blick in weite Ferne zu schweifen. Wusste er, wo er war? Wusste er, was er tat? Eine ältere Frau, die ihm mit ihrem Hund entgegenkam, verzog angewidert das Gesicht und machte einen Bogen um ihn.
Endlich stand er vor dem Haus in der Torstraße. Im obersten Stockwerk des Gebäudes brannte schon ein schwaches Licht. „Pelzer & Söhne“, sein Arbeitsplatz. Galanteriewaren en gros und en detail. In den Stockwerken darunter schien die lärmende Jugend, die in Start-Ups beschäftigt war, eine Party zu feiern. Hatten sie seit gestern durchgearbeitet oder fingen sie gerade an? Er begriff die moderne Welt nicht.
Er betrat die Eingangshalle und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Müde ging er über den Flur und öffnete die Milchglastür, die den altehrwürdigen Firmennamen in Buchstaben aus Blattgold trug. Der riesige Büroraum, der dahinter lag, hatte sich nicht verändert. Klimm, Pfeiffer und Sattelmann saßen an ihren schweren Schreibtischen aus dunklem Holz, an den Wänden die Aktenschränke mit endlosen Reihen von prallgefüllten Ordnern voller vergilbter Papiere. Mechanische Schreibmaschinen klapperten träge, Pfeiffer spannte gerade zwei leere Blätter Papier in seine Maschine, zwischen die er schwarzes Durchschlagpapier gelegt hatte. Auf jedem Tisch stand ein Telefonapparat aus schwarzem Bakelit.
Die lähmende Langeweile, die alte Menschen verbreiteten. Fräulein Gisela, die greise Sekretärin des Bürovorstehers, war an ihrem Tisch eingeschlafen. Niemand nahm von ihm Notiz, als er sich an seinen Tisch setzte und die kleine Lampe einschaltete. Im Eingangskorb lag die Post, die er abzuheften und in ein Empfangsbuch einzutragen hatte. Er stellte das Datum des Stempels neu ein und begann, die Briefe mit einem Brieföffner aufzuschneiden. Dann stempelte er die Briefe und ordnete sie anschließend alphabetisch, um sie in den entsprechenden Ordnern abzuheften. Wie lange arbeitete er schon bei „Pelzer & Söhne“?
Ein helles Glöckchen ertönte. Mechanisch stand er auf und ging zur Tür, die ins Büro des Bürovorstehers führte. Er klopfte zaghaft an und öffnete die mit grünem Leder ausgeschlagene Tür, ohne eine Antwort abzuwarten. Sein Vorgesetzter thronte in einem weißen Himmelbett. Er hatte pralle Seidenkissen im Rücken und eine Schlafmütze auf dem Kopf. Er trug eine dicke Hornbrille, vor ihm lagen zahllose Akten, die über das ganze Bett verstreut waren.
Der Chef nahm die Brille ab, seine kleinen Augen hatten die Farbe von Pflaumenkernen. „Mir ist ein Schriftstück unter das Bett gerutscht. Seien Sie bitte so freundlich und holen Sie es mir hervor.“
Der Mann begann augenblicklich, unter das Bett zu kriechen. Er kroch immer weiter, inzwischen konnte man seine Beine nicht mehr sehen. Er lag in völliger Finsternis und hatte die Orientierung verloren. Von wo war er gekommen? Er rief den Bürovorsteher, aber er bekam keine Antwort. Also tastete er sich mühsam weiter durch den Staub.
Seine Hände griffen ins Leere. Der Untergrund wurde abschüssig und er kam ins Rutschen. Er versuchte, Halt zu finden, doch jetzt ging es immer schneller abwärts. Es war eine Art Rampe und einen Augenblick später war er in freiem Fall. Er schrie und seine Stimme hallte an den Wänden wider, als wäre er in einer Kathedrale.
Er fiel überraschend weich. Er war in einen Bottich gefallen, unter ihm lag weiße Wäsche. Tischdecken und Laken. Vielleicht vom Hotel nebenan? Dann setzte sich der Wäscheberg in Bewegung. Er hob den Kopf und sah hinaus. Er saß in einer Art Lore und vor ihm lag ein Schienenstrang in der Dämmerung. Es ging hinauf und hinab, durch niedrige Gänge und Höhlen, in engen und weiten Kurven.
Schließlich flog er in den hellen Tag hinaus. Die Lore überschlug sich in der Luft und er fiel hinaus. Er landete zwischen den Mülltonnen eines Hinterhofs. Erschöpft und zerschlagen blieb er eine Weile liegen. Dann kroch er aus dem Müll und torkelte auf die Straße.
Das silberne Funkeln der Wellen. Sonnenaufgang über der Spree. Fortuna, die blinde Göttin des Zufalls, hatte das Rad des Schicksals gedreht und seine Privatapokalypse heraufbeschworen. Er überquerte den Fluss und ging die Friedrichstraße entlang.
Crosby, Stills, Nash & Young – Carry On. https://www.youtube.com/watch?v=HocfN2gvgto
Genau !
AntwortenLöschenWieder Montag.
Fiel mir erst auf, wie ich wieder am Schreibtisch saß.
Müsste eigentlich mousetable heißen.
Irgendwie.
Oder Hackplatz. Schön zackig deutsch.
Mit Schreiben hat es jedenfalls nichts mehr zu tun.
Ein Namenloser wird durchgedreht.
AntwortenLöschenSchön.
Bei mir hieß man noch, zum Beispiel: K.
gez. Kafka