Donnerstag, 1. August 2013
Gentrifidingsbums
Möchtegernkanzler Steinbrück ist in den Sprengelkiez gezogen - genauer gesagt hat er sich dort eine Zweitwohnung genommen. So kann man seine Verbundenheit mit einem sozialen Brennpunkt und dem kleinen Mann auf der Straße (so wird er die neuen Nachbarn im Wedding vermutlich bei abendlichen Runden im heimischen Bonn bezeichnen) auch ausdrücken. Hut ab!
Samstag, 27. Juli 2013
"Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis"
Der japanische Anime-Film „Hotaru no haka“ („Die letzten Glühwürmchen“) erzählt das Schicksal eines Geschwisterpaars im Zweiten Weltkrieg. Dieses Meisterwerk ist wie das Leben selbst: schön und traurig, grausam und voller Poesie. Für viele Menschen ist es der traurigste Film der Welt. Ich glaube, diese Zuschauer sind deswegen so erschüttert, weil sie den Film durch „westliche“ Augen sehen. Aus Sicht eines aufgeklärten, rational denkenden und materialistisch orientierten Europäers ist der Film eine reine Passionsgeschichte – im Gegensatz zur biblischen Erzählung gibt sie uns jedoch keine Hoffnung und kein Happyend. Eine lineare Abfolge von Unglücken, an dessen Ende der Tod einer kompletten Familie steht. Eine fürchterliche, eine unerträgliche Katastrophe, die uns sprachlos und mit Tränen in den Augen zurück lässt, und die sich für alle Zeiten in unser Gedächtnis einbrennt. Dass es im Kern eine wahre Geschichte ist und keine Erfindung eines Drehbuchautors, macht es noch viel trauriger.
Was wäre, wenn wir diesen japanischen Film durch die Augen eines Japaners betrachten würden? Was wäre, wenn wir ihn nicht analytisch in seine Einzelteile zerlegen, sondern seine Geschichte ein paar Tage auf uns wirken ließen? „Die letzten Glühwürmchen“ hat eine philosophische Botschaft, die auf den Lehren des Buddhismus und Shintoismus beruht. Für einen Buddhisten bedeutet Leben Leiden. Unsere Emotionen, unser Ich verhindern eine harmonische Verbindung mit dem Kosmos und müssen überwunden werden, um das Leiden überwinden zu können. Mit der körperlichen Hülle lässt man auch die Leiden der Welt hinter sich – um womöglich als neues Lebewesen wiedergeboren zu werden. „Shinto“, der Weg der Götter, ist der alte Naturglaube Japans. Im Shinto ist alles beseelt und miteinander verbunden. Die ganze Natur ist göttlich, alles kann ein Gott sein: ein Wasserfall, ein Baum oder ein Berg. Mensch und Natur sind eine harmonische Einheit. Shinto kennt kein Jenseits, sondern nur die unendlichen Metamorphosen der materiellen Erscheinungen. Ein ewiger Kreislauf, symbolisiert in den Tempelbauten, die alle zwanzig Jahre abgerissen und detailgetreu wieder aufgebaut werden. Die kleine Setsuko ist nun ein Kami, ein unsterblicher Geist geworden. Wir sehen sie am Ende glücklich in ihrem Zaubergarten, in dem sie einen wunderbaren Sommer der Freiheit verbracht hat. Ihre gute Seele lebt in allen Glühwürmchen fort.
Setsuko fragt ihren Bruder Seita einmal, warum die schönen Glühwürmchen so früh sterben müssen. Niemand weiß das. Warum leben Glühwürmchen nur kurz und Schildkröten so lange? Wer kann das sagen? Die Natur ist weder gerecht noch ungerecht. Gerechtigkeit ist keine Kategorie der Natur. Setsukos Leben war nach westlichen Maßstäben nur kurz, aber – und das mag überraschen – auch sehr schön. Sie ist in der Geborgenheit einer glücklichen Familie aufgewachsen, auf dieser Basis hat sie Vertrauen zur Welt entwickelt. Sie klagt nicht und sie empfindet ihr Leben auch nicht als Schicksalsschlag, sondern hilft mit ihren winzigen Händen und ihrem erwachenden Verstand, wo sie nur kann. Sie ist bereits sehr selbständig und die Einsamkeit erträgt sie ganz tapfer, während sie alleine auf ihren großen Bruder wartet. Wir hören kein böses Wort von ihr, immer ist sie freundlich und mit allem zufrieden. Ein hässlicher Bunker wird zu ihrer neuen Heimat und sie verwandelt den öden Ort durch ihre bloße Existenz für einen kurzen Augenblick in ein göttliches Paradies. Ein Bonbon oder der Anblick der Glühwürmchen am Abendhimmel machen sie so glücklich, dass sie zu tanzen beginnt.
Und natürlich gibt es für diesen liebenswerten Menschen eine Erlösung. Das Ende des Films ist gut. Sie schläft friedlich ein. Sie bemerkt nicht einmal ihren eigenen Tod. Sie muss nicht die Angst vor dem Sterben aushalten, die wir Erwachsenen alle in uns tragen, obwohl sie den Tod längst kennen gelernt hat. Gibt es für ein Kind einen größeren Verlust als die Mutter? In ihren letzten Augenblicken halluziniert sie ein Glühwürmchen. Ihre Seele gleitet in ein neues Leben hinüber. Ihr Körper ist vom Leiden der Welt erlöst. Sie wacht als guter Geist auf dem Schoß ihres großes Bruders, der immer alles für seine kleine Schwester getan hat, über unsere Gegenwart. Das ist der große Trost der letzten Szene dieses Films. Und danach sollte man sich noch einmal die Anfangsszene anschauen, als ein Fremder die Bonbonbüchse mit ihren sterblichen Überresten auf eine Wiese wirft. Glühwürmchen steigen aus der Wiese in den Himmel empor und Setsuko erscheint. Dazu die schlichte und schöne Kindermelodie. Alles fließt ineinander, alles ist in einem Kreislauf harmonisch miteinander verbunden. Die Gegensätze von Leben und Tod, von Leid und Glück sind aufgehoben.
Ihr kleiner zarter Körper hat der Grausamkeit des Krieges und der Erbarmungslosigkeit dieser Welt nicht lange standhalten können. Ihr Geist lebt jedoch für alle Zeiten fort. Ihr Sanftmut, ihre Freude am Leben, ihre Bescheidenheit, ihre Unschuld und ihre Freundlichkeit fallen wie ein Bündel Sonnenstrahlen in die Finsternis unseres westlichen Denkens und in unseren trostlosen Lebensalltag. Setsuko ist unsterblich geworden. Als Mensch und als Filmfigur. Ich denke oft an sie. Was sie wohl jetzt gerade macht? Spielt sie mit ihrer Puppe oder ist sie am Strand? Ob sie immer noch so gerne Fruchtbonbons lutscht? Sie ist mitten unter uns. Weine nicht um Setsuko, nimm sie einfach auf deinen Arm. „Seita!“ Kannst du ihre Stimme hören? „Lass mich nicht allein.“
Donnerstag, 25. Juli 2013
Schattenleben, zweiter Teil
Mit dem Geld ist es ganz einfach: Viele haben in ihrer Wohnung Geld und Gold versteckt. Schmuck meide ich, denn er ist sehr schwer in Geld zu verwandeln. Dazu müsste man einen Hehler kennen und ich mag keine Kriminellen. Ich nehme an, die Wohnungsbesitzer werden kaum Anzeige erstatten, da es sich im Regelfall um Schwarzgeld handelt und die Versicherung es sowieso nicht glauben würde. Die Geprellten glauben vermutlich an einen normalen Einbruch. Dazu passt auch das zerwühlte Bett, das den Eindruck erweckt, nach Beute abgesucht worden zu sein. So ist im Laufe der Zeit ein schönes Sümmchen zusammen gekommen, alles in allem Goldbarren, Dollar und Schweizer Franken im Wert von über hunderttausend Euro.
Zum Mittagessen gehe ich in ein Edelrestaurant auf der Französischen Straße. Nach diesem armseligen Frühstück brauche ich etwas Anständiges. Zunächst ein paar gebratene Garnelen mit Salat, danach ein saftiges Entrecote und zum Abschluss zarte Crepes. Danach möchte ich noch eine neue Jacke kaufen. Es ist Frühling und der Wintermantel gefällt mir nicht mehr. Er wird verschwinden müssen. Ich kann immer nur mehr als einen Koffer tragen, also brauche ich nicht viele Dinge gebrauchen. Eigentlich bin ich immer auf Reisen wie einer dieser Arbeitsnomaden, die von ihren Firmen durch die ganze Welt geschickt werden.
Aber ich bin nicht wie sie, ich bin der Schatten dieser Arbeitsnomaden. Alles begann mit Paul. Ich war damals in einer Cocktailbar gelandet und sog gerade an meinem zweiten Zombie, als sich zwei Typen in dunklen Anzügen an die Bar setzten. Sie unterhielten sich über ihre Arbeit und fluchten über die vielen Dienstreisen, die sie für ihre Firmen machen mussten. Einer der beiden hieß Paul und erzählte, seit seiner Scheidung würde er in einem Appartementhaus wohnen, in dem seine Firma ein Dutzend Wohnungen angemietet hätte. Für Gäste und für die eigenen Leute, die eine Unterkunft in der Nähe der Firma suchten. Am Ende des Abends hatte ich nicht nur Pauls vollen Namen und Adresse gehört, sondern dass er am darauffolgenden Tag nach London fliegen müsse. Er komme erst eine Woche später wieder.
Und so lebte ich ein paar Tage in Pauls Wohnung, ernährte mich aus seinem Kühlschrank, trank edelste Single Malts und genoss den Blick auf einen gigantischen Flachbildschirm. Das Leben gefiel mir, dass Paul führte. Nur seine Arbeit fand ich schrecklich. Aber die Wohnung, die teuren Klamotten, die DVD-Sammlung – genau mein Stil. Es war kein Problem gewesen, das Türschloss zu öffnen. Klugerweise hatte ich nach einem Semester BWL das Studium aufgegeben und für einen Schlüsselnotdienst zu arbeiten. Notfalls geht man eben mit seinen Arbeitsklamotten vom Schlüsseldienst in ein solches Haus.
Ich hatte mich ein wenig an den Luxus gewöhnt, konnte aber unmöglich bei Paul noch einmal wohnen. Er hatte es sicher gemerkt, dass jemand in seiner Wohnung gewesen war, auch wenn nur Nahrungsmittel fehlten. Persönliche Dinge wie Tagebücher und Briefe lese ich, aber ich stehle sie nicht. Also habe ich meine Methode systematisch ausgebaut: Am Anfang suche ich mir über das Internet die Namen von Managern heraus. Dann suche ich ihr Profil bei Facebook und überprüfte ihre Daten und Bilder auf Xing. Alle diese Trottel sind mit ihrem Bewerbungsfoto auf Xing. Wenn ich sie zweifelsfrei identifiziert habe, checke ich regelmäßig deren Seite. Wenn Sie eine Dienstreise ankündigen und sich beispielsweise über einen langen Trip in die USA lamentieren, sind also ihre Wohnungen frei. Dann die Adresse checken und wenn es sich um ein typisches Dienstwohnungskarussell handelt, wird der Fall interessant. Die Adressen der Dienstwohnungssilos, die von Konzernen angemietet werden, bekommt man über die Werbung im Internet.
Die zweite Wohnung gehörte einem IT-Schnösel namens Tom. Er war auf einer Weiterbildung und wollte anschließend auf Sardinien Urlaub machen. Er hatte einen grauenhaften Geschmack, aber die Wohnung in Dahlem war sehr schön. In wenigen Schritten war man im Grunewald und konnte an den vielen schönen Seen spazieren gehen. Und mit der U-Bahn war ich in einer Viertelstunde auf dem Ku’damm. Tom las keine Bücher, jedenfalls sah ich keine in der Wohnung. Es waren auch keine Bilder an der Wand. In den Schubladen seines Schreibtisches, ein nierenförmiges Stück bleicher Kunststoff mit verchromten Beinen, waren nur Schnellhefter mit Rechnungen und Gehaltszetteln. Er hatte nirgendwo seine persönliche Handschrift hinterlassen und der Computer war passwortgeschützt. Außerdem besaß er mindestens zwanzig Paar Turnschuhe in allen Leuchtfarben und ein altes Skateboard auf dem Schrank. Damals war ich noch sehr schüchtern. Nach zwei Wochen packte ich meine Sachen, putzte und räumte auf, um mir eine neue Behausung zu suchen. Heute würde ich ein schönes Bild kaufen und es an die Wohnzimmerwand hängen. Ich würde neue Bettwäsche kaufen und vielleicht sogar eine Schachtel Pralinen auf dem Kopfkissen hinterlassen. Aber damals wollte ich keine Spuren hinterlassen, sondern unsichtbar bleiben. Ich wollte nur die süßen Früchte ihres Lebens kosten, ohne an diesem Leben wirklich teilnehmen zu müssen, aber im Grunde waren mir diese Menschen vollkommen egal.
Das änderte sich, als ich zum ersten Mal bei einer Frau wohnte. Viele kleine Details fielen mir auf: eine elegante kleine Vase auf einem Fensterbrett, die Farbkombination der Kissen auf dem Sofa, ein Block voller Landschaftsskizzen im Schlafzimmer. Das Bild im Internet zeigte eine selbstbewusste Frau Mitte Dreißig, gutaussehend und alleinstehend. Ihr Name war Dina. Ich begann, ihr Tagebuch zu lesen, das ich in der Schublade des Nachtisches gefunden hatte. Als Studentin klang sie noch optimistisch, aber im Laufe der Jahre häuften sich die Klagen. In ihrer klaren Mädchenhandschrift begann sie, die Frage nach dem Sinn ihres derzeitigen Lebens und nach Alternativen zu stellen. Ich las stundenlang, tagelang in ihrem Leben und Gedanken. Aber wie konnte ich mich in das Leben einer Unbekannten einmischen?
Manchmal nehme ich mir eine Auszeit und gehe ins Hotel. Geld genug habe ich ja. Diesen ganzen Menschen haben ja viel zu viel Geld, mit dem sie aus Mangel an Phantasie oder Gelegenheit nichts anzufangen wissen. Dann hole ich etwas von dem Geld aus dem Bankschließfach und bleibe ein paar Tage in einem Hotel. In Berlin wird jede Woche ein neues Hotel eröffnet und ich wähle jedes Mal ein neues Haus. Ich bin jederzeit völlig frei in meinen Entscheidungen – diese Manager könnten soviel Freiheit gar nicht ertragen. Es würde sie nervös machen, einen ganzen Nachmittag die Zeitungen in einem Kaffeehaus zu lesen, so wie ich es zu tun pflege. Soll ich sie nun verachten oder soll ich mir Sorgen um sie machen? Und so lange ich diese Frage nicht hinreichend beantwortet habe, benutze ich sie einfach, so wie sie andere benutzen.
Schattenleben, erster Teil
Ich bin jetzt fünfundzwanzig Jahre alt und habe noch nie gearbeitet. Ich habe es auch nicht vor. Wenn ich am Fenster stehe und diesen armen Kreaturen zusehe, wie sie bei Sturm und Regen irgendwelchen kleinen und großen Transporthülsen entgegen eilen, die sie an Orte bringen, die ich gar nicht kennenlernen will. Fabriken, Büros und Geschäfte. Alles voller fremder Menschen, Lärm und greller Beleuchtung. Banale Plaudereien, Neonröhren, eingeschweißte Sandwichs. Es geht um öde Dinge wie Zahlenkolonnen, Handtaschen oder Tütensuppen. Die Menschen stehen im Dunkeln auf, obwohl sie noch müde sind, und ziehen sich alberne Sachen an, die sie freiwillig nie tragen würden. Sie kaufen Sachen, die sie nur für den Job brauchen. Wenn sie etwas machen, vergleichen sie sich immer mit ihren Kollegen oder Nachbarn. Sie haben vielleicht auch Eltern, denen sie etwas beweisen wollen. Sie beschäftigen sich seit ihrem zwölften Lebensjahr mit der privaten Altersvorsorge und wissen mit vierzig nicht, warum sie überhaupt leben. Ich brauche das alles nicht. Mir reicht es, hier am Fenster zustehen und den Leuten zuzuschauen. Ich werde nie zu diesen Kreaturen da draußen gehören. Ich kenne sie nicht und sie kennen mich nicht.
In der Küche habe ich die Kaffeemaschine zum Laufen gebracht. Diese Geräte werden immer komplizierter, aber ich habe die Gebrauchsanweisung in einer Schublade der schneeweißen Einbauküche gefunden. Leider gibt es hier kein Brot, daher begnüge ich mich mit einem Müsli. Die Küche wirkt nicht nur aufgeräumt, sondern auch unbenutzt. Der Mieter dieser Wohnung kocht offenbar nicht oder nicht oft. Im Vorratsschrank finde ich eine Dose Linsensuppe und eine Dose Pfirsiche. Im Kühlschrank ist etwas Käse, Milch und Ketchup. Wahrscheinlich wieder einer dieser Single-Manager, die diese Stadt bevölkern.
Nach dem Frühstück lege ich mich auf das schwarze Ledersofa und frage mich, warum ein einzelner Mensch eine Wohnung dieser Größe mietet. Das Wohnzimmer allein hätte genügt. Die Küche war eigentlich überflüssig, das Schlafzimmer war riesig. Und im dritten Zimmer, einem herrlichen hellen Raum mit Blick auf den Park, standen nur ein paar Kisten und eines dieser als Heimtrainer bekannten Fahrräder, mit denen man auf der Stelle trat. Nach den Sachen im Kleiderschrank zu urteilen, war der eigentliche Bewohner dieser Penthousewohnung einen Kopf kleiner. Aber er konnte ein paar neue Unterhosen und Socken gebrauchen. Er mochte es ohnehin nicht, mit den Jacken und Hosen fremder Leute gesehen zu werden. Jemand konnte sie vielleicht wieder erkennen, obwohl das extrem unwahrscheinlich war und die meisten Menschen sich unauffällig kleideten. Vor allem die Männer trugen praktisch farbfreie Kleidung von hellgrau über dunkelgrau bis schwarz. Dazu weiße Hemden und idiotisch bunte Krawatten, als sei ihr letztes bisschen Individualität in diesen erbärmlichen Stofffetzen geronnen.
Im Augenblick wohne ich am Tiergarten in Berlin. Ich bevorzuge Wohnungen ohne Concierge und ohne viele Kameras. Für die üblichen Kameras reichen Schirmmütze und Sonnenbrille, man wirkt dann auch gleich prominent. Die Luft im Park ist mild. Am späten Vormittag sind die lästigen Jogger mit ihrem beunruhigenden Schnaufen bereits verschwunden und junge Mütter mit Kinderwagen prägen das Bild. Das Leben ist ganz einfach: ausschlafen und frühestens um zehn Uhr das Haus verlassen, dann sind alle Manager schon im Büro. Die meisten kommen müde und mit gesenktem Kopf gegen zwanzig Uhr nach Hause und bei den seltenen Begegnungen im Fahrstuhl ist es von Vorteil, dass man sich in der Großstadt nicht kennt. Es reicht die Beachtung des Dresscodes in einem solchen Gebäude. Nachts kommen die Betrunkenen nach Hause, aber die hört man vorher. Und ich bin abends sowieso gerne zu Hause.
Zu Hause – ein Zuhause im eigentlichen Sinne habe ich schon seit einigen Jahren nicht mehr. Als ich von Zuhause fort ging, sagte ich, dass ich studieren würde. Bei meinen Anrufen erzähle ich meinen Eltern inzwischen, dass ich für eine amerikanische Management-Firma arbeiten würde und landesweit zum Einsatz käme. Wenn ich mit meinem Vater oder meiner Mutter skype, staunen sie immer über die schöne Wohnung, die sie im Hintergrund sehen können. Ich habe schon immer gut gelebt. Aber ich habe noch nie Miete gezahlt. Ich bin ein Mietfrei-Nomade.
Sonntag, 26. Mai 2013
Friedel Castor: Last Exit Dotzheim
Es folgt eine kurze marxistische Sonntagsmesse – ich bitte um Ruhe!
Ihr braucht Euch um die Gesundheit des Kiezschreibers keine Sorgen zu machen. Unsichtbar wacht aus der Ferne ein alter Held vergessener Tage. Unter einem albernen und völlig sinnlosen Pseudonym (nicht so voreilig Freunde! Die Überraschung kommt erst ganz am Schluss) muss er aufgrund seiner aufrechten Haltung in seinen Jahren als Jung-Siegfried das kostbare Wissen des deutschen Antifaschismus wie der letzte Druide unter der Geißel des römischen Imperialismus an eine neue Generation furchtloser Untergrundkämpfer weitergeben.
Ich bin auch jetzt noch nicht würdig genug, seinen Namen auszusprechen (zumindest nicht öffentlich). Jeder in unserer unbedeutenden Heimatstadt kennt ihn und dennoch würde keiner seinen Namen preisgeben. Damals nicht und heute nicht. Wir brauchen dafür auch keine Rituale, Orden und albernen Schwüre. Wir haben ganz einfach den Marxismus (kurze Zwischeninfo: die Uni-Bibliothek wird leider ab morgen bestreikt. Die Studienbedingungen sollen inzwischen auf dem Niveau von Albanien sein, aber immer schön weiter Atomkraftwerke in die bayrischen Urwälder bauen – Bäume können ja nicht schreien oder weglaufen … ganz toll. Aber ich spar mir jetzt einfach mal die Verbalinjurie).
Ungebrochen, schweigsam und allein ist er in diesem Augenblick irgendwo da draußen: Ein bescheidener Halt für seine nähere und ferne Umgebung und selbstverständlich ist er trotz seiner ungebrochenen Popularität zu keiner Zeit eine Gefahr für seine Mitmenschen. Ich muss seine neue Heimatstadt nicht nennen. Viele kennen sie und dennoch müssen wir wertlosen Erwerbsmenschen uns um die Ruhe dieses tapferen Einzelkämpfers nicht sorgen. Seine Karriere können wir aus Gründen der Sicherheit (ein verdächtiger Mann kommt gerade herein) nur in unverfänglichen Stichworten, mit denen unsere politischen Gegner nichts anfangen können (neue Liste ab 1. Juni in totem Briefkasten „hinter Rewe“), und diesmal wirklich ohne Rückfragen, weil es ja heute um was ganz anderes gehen soll: Startbahn West – Last Man Standing (ganz heiße Sache, bitte nicht mehr mailen, da sonst Server überfordert); sehr lange im Untergrund (und mehr sag ich echt nicht, Stefan); aktuelles Projekt seiner vollkommen autonomen Ein-Mann-Zelle: Anflug auf das böse Herz des Imperiums, die Frankfurter Börse (die Beta-Version ist echt krass, sieht aus wie in einem Kinofilm – zum Glück gibt’s die alten Klugscheißer mit den Schreibmaschinen nicht mehr! Stell dir mal vor, wir müssten alle drei Tage irgendwelche Farbbänder wechseln! Kein Wunder, dass es bei dieser Steinzeittechnik mit dem Sozialismus nicht geklappt hat. Oder war das Kommunismus? Naja, egal. Das mache ich nächstes Semester).
XY, wir folgen dir! Du bist unser Eisen- und Blutschild gegen Faschismus, Imperialismus, Fordismus, Kubismus und jetzt mal ganz konkret Wiesbaden-Dotzheim (nein, wir losen jetzt nicht noch mal, Rüdiger): Diese Pestbeule am Hintern des hessischen Finanz-, Turbo-, Mord-, Ausbeutungs- und Ikeakapitalismus muss ausgelöscht (bitte, Sven: „ausradieren“ gibt doch wieder Diskussionen) werden. Wir haben das wirklich alles sehr lange ausdiskutiert und das ist eben das Ergebnis. Tut uns leid! Ihr Dreckskapitalisten hattet im Beschleunigungszeitalter schließlich ausreichend Gelegenheit, euch begrifflich, inhaltlich, methodisch (ich kürze jetzt mal ab: Revolution ist wahre Beschleunigung, ihr Faschos!! Schon mal Delaforce gelesen, Schlafmütze? Ironie aus. Grüße auch an Oma99. Alles gut angekommen. Muss Schluss machen, eilige Sache und nachmittags Schwimmschule) auf den bewaffneten Kampf entschlossener Volksmassen (zu Fragen des Zivildienstes wird sofort nach Abschluss der Regierungsübernahme ein Ausschuss gebildet, er tagt vermutlich erst mal nicht öffentlich, Klaus, weil es sonst echt ein bisschen unübersichtlich wird) vorzubereiten.
Glaubt ihr echt, wir verschieben die Sache noch mal, ihr Schwachköpfe?! Glaubt ihr Bonzenschweine, Ihr könnt uns aufhalten? Ihr werdet unseren Anführer niemals finden! Obwohl wir ihn in ein weit entferntes Land bringen mussten, um ihn vor Interpol, Gestapo, Mossad, Kik und Uli Hoeneß zu schützen, ist er uns in unseren kleinen zerbrechlichen Hasenherzen doch immer nahe. Gegen seinen gut getarnten und weitläufig von undurchdringlichem Dornengestrüpp und wegloser Einöde umgebenen Unterstand ist mein antiker Pappkarton mit Holzbein ein geradezu palastartiges Anwesen. Frau und Kind werden ihm unter großen Entbehrungen und natürlich nur stundenweise von den allertreuesten Gefährten (keine Klarnamen!) mit verbundenen Augen zugeführt, die es in stummem Dienst an einer großen Sache, die weit über jedem einzelnen von uns steht, im Anschluss klaglos hinnehmen, als nahrhafte Speise für den weiteren Kampf gegen die Unterdrückung der Menschheit, ja – und jetzt scheue ich mich tatsächlich nicht, auch einmal pathetisch zu werden (man wirft uns Marxisten ja immer vor, nicht wahr, wir wären so gefühllos – schade, wäre eigentlich auch mal wieder ein gutes Thema gewesen, ich schreibe es irgendwo in eine Datei) für die Eroberung des gesamten Universums (Klingt blöd? Wenn alle Marxisten sind, gibt’s keine Faschos mehr, kapiert? Bitte noch mal auf Start und das nächste Mal genauer zuhören, bevor du hier einen endlosen Monolog hälst, der uns allen wirklich die letzten Energien raubt).
Ich komme zum Ende, da mein Wortschatz nicht ausreicht, die Kraft seiner strahlend blauen Augen zu beschreiben, denen der winzige Fingerzeit einer gequälten Kreatur genügt, um augenblicklich explosionsartig sämtliche Instinkte zu aktivieren und mit einer einzigen, erst mit modernster Technik optisch überhaupt erfassbaren Bewegung seines Schließmuskels für alle Zeiten die Ketten der Zensur, von Ausbeutung und Unterdrückung, von Faschismus und Feminismus, von Häusern und Türmen zu sprengen. (Apropos „gequälte Kreatur“: Ausnahmen wirklich nur in dringenden Fällen – und jetzt mal kurz was zur Frage der bewegungsinternen Frauensolidarität: Wegen dieser Pi-Mo, Po-Mi oder wie die heißt (die mit der Warze an der Nase) haben wir das reingenommen mit ihren Scheißallergien. Kommt heute nicht. Logo. Ist ja Samstagnacht. Kann man ja auch einfach mal woanders hinfahren. Wenn ich einen Schwerbehindertenausweis hätte, würde ich in so einer schönen Mainacht auch mehr unterwegs sein. Kost ja nix! Aber wenn man die Dinger fälscht, gibt’s Ärger, habe ich gehört).
Die Beschreibung seiner Ausbildung in einer eigens für ihn entwickelten Weltraumkapsel durch Elite-Ninja-Turtles erspare ich mir hier; Danke an Red Bull für die Solidarität, von der wiederum 7,3 Prozent als Spende (frag doch nicht immer so blöd, die Zahlen bestimmt unser Steuerberater) an die Welthungerhilfe in Offenbach überwiesen wird. Ihr braucht den Mann auch nicht jedes Mal mit Tränen in den Augen anzustarren, ey – kennt irgendjemand in diesem Ghetto die Worte „Inkognito“ und „Diskretion“? Wir haben hier 1765 am Hauptbahnhof gegen die Neonazis fast eine ganze Kommandostruktur verloren, als Tobias den Busfahrplan verloren hat und diese Schwachköpfe „einfach mal spontan“ in irgendeinen Bus gestiegen sind, ohne zu wissen, wo es hingeht. Bis alle wieder zu Hause ankamen, war es schon längst dunkel. Toll. Tag gelaufen. Nachts gehört die Gegend den Albanern. Ich würde besser nicht rausgehen, aber du kannst es gerne probieren. Ich wohne hier schon fast ein Jahr und brauch das nicht mehr. Aber wenn du als Pazifist nach 9 Jahren gewaltlosem Widerstand eine Messerstecherei mit Drogenhändlern und Zuhältern brauchst, nur um diesen ungesunden Kram zu kaufen. Da ist übrigens soviel Zucker drin wie in einem Zeppelin, aber du hörst mir ja nie zu. Wisst ihr Cyperface-Süchtigen überhaupt noch, was ein Zeppelin ist?
Wagt es nur, den Kiezschreiber (Adresse googeln, wir sind bei gutem Wetter vielleicht vegan grillen) blöd anzumachen! Dann wird’s richtig hässlich, Leute! XY war mit mir auf einer Schule, wir haben viel zusammen durchgemacht (repressives Milieu). Leute aus der „Szene“, für die echte Solidarität (nachschlagen, du Juso-Penner! Boah ey, sag bloß, du bist aus Schwaben? Bist du wenigstens schwul?) kein Fremdwort ist, brauchen kein Pfefferspray. Ihr habt nur die Gewalt, uns gehört die Zukunft. Lacht uns nur aus! Uns gehört nicht nur die gesamte Zukunft, sondern auch viele weitere Dinge, die derzeit noch in Arbeitsgruppen ausdiskutiert und dann einfach mal per Mail rumgeschickt werden, um der Burgeroisie mit seinen verstaubten Ansichten und bewegungslosen Hierarchien, die aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen scheinen, etwas fundamental Neues entgegen zu setzen. Es reicht! Doch, Ulla. Wir haben lange genug diskutiert. Linke sind viel geduldiger als rechte. Und warum? Jetzt mal der Neue da hinten, der hat noch gar nichts gesagt! Ach so? Taubstumm und aus Albanien? DU HIER NIX SCHROTT VERKAUFE ! VERSTANDE ?!
Ich kürze das jetzt mal ab, weil wir in einer historisch so einmaligen Gesamtkonstellation wie heute ab 14 Uhr ausnahmsweise mal keine Zeit für Endlosdebatten und Protokollgefechte haben. Sein finanziell durch den jahrelangen und zermürbenden Prozess um die eigentlich hoffnungslos an Krebs erkrankte Tochter (Pharmaindustrie war schuld) ruinierter Vater (die kindle-Version seiner Memoiren kommt ab ca. 12. Juni in den Handel) hat sich schon vor vielen Jahren in Richtung Süden abgesetzt. Quellen, die so unglaublich wichtig sind, dass wir sie eigentlich gar nicht öffentlich Quellen nennen dürfen, weil wir uns natürlich auch nicht permanent in Gefahr begeben wollen (vor allem, wenn wieder Vollmond ist), haben uns mitgeteilt (nein, diesmal nicht im Hauptbahnhof, Frank! Warum willst du das eigentlich jedes Mal so genau wissen?), dass es ihm gut geht. Dicht hinter der Grenze wartet er auf einen günstigen Moment zum Angriff auf den Feind, dem er einen lebenslangen und überhaupt sehr hartnäckigen Fußpilz verdankt, den er sich auf der Flucht zugezogen hatte. Drei Tage lag er in Basel mit hohem Fieber in einem kaum faustgroßen und vollkommen lichtlosen Verschlag, wo er einsam, aber ungebrochen mit dem Tode rang. Darüber sollten diese angeblichen „Profis“ von den Medien mal schreiben, statt immer nur mit anderen Angehörigen ihrer parasitären und unglaublich herrschaftsstabilisierenden Kaste (DAS BLEIBT. Sollen mich die Drecksbullen doch einbuchten!) in uncoolen Raucherkneipen abzuhängen. Draußen scheint übrigens die Sonne, ihr Ignoranten. Schon mitgekriegt, dass der Frühling da ist? Oder soll ich euch erst den Rollator abstauben, ihr Langweiler? Typisch, Mann. Aber natürlich alle mit Festanstellung. Da hast du als Frau gar keine Chance. Ich habe es echt versucht. Aber die haben mich gleich am ersten Tag so fertig gemacht, das war eigentlich schon strukturelle Gewalt. Aber wenn in so einer Situation nicht zufällig eine andere Frau dabei ist, hast du keine Chance. Siehste ja an diesem Nuschelgreis und der Stern-Reporterin. Brauchste gar nicht erst klagen. Vor Gericht halten die Machos zusammen. Mauer des Schweigens. Ich bin dann auch einfach gegangen und habe das später in der Gender-Mainstreaming-Gruppe meines Studentenwohnheims aufgearbeitet, ohne dass ich gleich darüber einen fetten Artikel in der Uni-Zeitung schreiben musste wie Barbara.
Er ist einer dieser Menschen, von denen es einmal heißen wird: Wo endet seine Geschichte und wo beginnt sein Mythos? Alles verbindet sich in der Figur dieses modernen Helden zu einem Kosmos von großartiger Bedeutung, für die uns an dieser Stelle leider die nötige Zeit fehlt. Und kommt mir nicht mit dieser ewigen Leier von wegen der islamischen Feiertage, an denen ihr den Abschnitt nicht schreiben durftet. Toleranz hat Grenzen. Irgendwo ist das alles ja auch eine Ausrede. Statt am 1. Mai ein Subotnik zu machen, rennt ja alles gleich nach Öffnung der Türen in die nächstbeste Kaschemme, um sich volllaufen zu lassen.
P.S.: Hohe Orden und akademische Grade können nur ausnahmsweise und selbstverständlich auch erst postum entgegen genommen werden. Und Diskretion schreibt man nicht mit CK, Gundula! Wie oft soll ich dir das denn noch sagen? Noch ist es nur ein Praktikumsplatz …
P.P.S.: Letzte Warnung an alle Fanatiker da draußen! (Wo bleibt die Aufzählung, Ken?). Falls es irgendetwas gibt, dass auch nur entfernt nach einem Juristen oder Hessen aussieht und dass sich jetzt noch aus der Deckung wagt, spielt nicht nur mit dem eigenen Leben, sondern mit den gesamten zivilisatorischen Errungenschaften unserer Hauptstadt, wenn nicht sogar Europas. Toleranz hat Grenzen – treibt es nicht zu weit! Und das alles mit allem zusammenhängt und damit natürlich auch deine Scheißmalediven, wissen wir selbst, Uschi. Ich will hier nicht drohen, weil das sonst nicht unsere Art ist (eure schon), aber Fanfreundschaften kann man auch beenden. Hallo! Kapiert? Wie deutlich soll ich noch werden, „Sheldon“.
P.P.P.S.: Ach du Scheiße! Gendern vergessen. Das gibt’s doch nicht. Gibt’s da noch keine App? Typisch Microsoft. Lahmärsche. Aber Apple kaufe ich schon aus Prinzip nicht.
Ich komme nun wirklich zum Schluss: Es heißt, er sei noch bescheidener geworden. Er selbst würde übrigens solche überflüssigen Bemerkungen gar nicht kommentieren und nur mit stummem Blick auf Uhr, Picknickdecke und seinen Rikschamann den Aufbruch einleiten, um wortlos Taten wahrer Manneskraft folgen zu lassen, da es an diesem Ort nutzloser Geschwätzigkeit für ihn offenbar nichts mehr zu tun gibt.
Samstag, 25. Mai 2013
Samstagabendunterhaltung im Brunnenviertel
Zur allgemeinen Auflockerung für meine Leserschaft ein kleines Quiz zum Thema „Street Credibility“, das die Digital Natives uns älteren Semestern jetzt gerne als neuen Trend und als moderne Begrifflichkeit nahebringen möchten:
Was heißt „Street Credibility“ auf Arabisch?
Oder was heißt „Nicht nach der ersten Kanne Früchtetee am späten Vormittag übermütig werden und gleich dem ersten zufälligen pädagogischen Impuls nachgeben“ auf Russisch?
Sind Sie schon einmal ohne Pressebegleitung und nur aufgrund persönlicher Sympathie in eine türkische Wohnung eingeladen worden?
Welche großen Religionen werden in den türkischen Wohnzimmern angebetet? Nennen Sie mir bitte die nur die unbestritten wichtigste?
Kleiner Tipp: Es sind keine echten Religionen und die Anhänger dieses seltsamen Brauches, dessen historischer Ursprung und eigentlicher Sinn leider verloren gegangen sind, tragen in Deutschland bei jedem Wetter einen Schal um den Hals. Außerdem ist es eine Fangfrage und nur ein kleiner Spaß für die Jungs in den Teestuben.
Bonusfragen für Berliner:
Nennen Sie mir drei nicht-türkische Lieblingsclubs türkischer Fans in Ihrem Kiez und drei türkische Lieblingsclubs nicht-türkischer Fans innerhalb von sechzig Sekunden, ohne den Telefonjoker einzusetzen! Finger weg!! Konzentration …
Wo zieht man in einer syrisch-orthodoxen Kirche seine Schuhe aus? Am Eingang, kurz vor dem Altarbereich oder überhaupt nicht?
Zum Schluss nur noch eine kurze Bemerkung zu unserer deutschen Kultur, denn nachher spielt Kloppo im Champions League-Finale gegen das Reich der Finsternis und morgen ist auch noch der Grand Prix von Monte Carlo. In meinem Alter und bei meinem Zwei-Finger-Tempo auf diesen dankenswerterweise „verbesserten“ Tastaturen muss man einfach Prioritäten setzen. Früher war mehr Lametta! Wir Rheinhessen neigen gelegentlich zu derben Späßen, die man uns gerne mit gleicher Münze heimzahlen kann. Dann darf man uns auch gerne aus vollem Halse und vor möglichst vielen spottlustigen Zechern ins Gesicht lachen. Leider sind unsere Fähigkeiten, die eigene Kultur hier in der Hauptstadt sichtbar zu machen, offenbar beschränkt.
Ich weiß: Bei „deutscher Kultur“ ballt mancher Zeitgenosse reflexartig die linke Faust und der rechte Arm zeigt mahnend in Richtung einer bleiernen Vergangenheit. Ich kannte mal einen hessischen Notarsohn, der mir nach etlichen Bier auf einer Party mit tieftraurigem Blick und selbstverständlich unter vier Augen gestand, er sei Achteljude. Aus Gründen der Diskretion gegenüber meiner Familie habe ich auf seine Gegenfrage nicht geantwortet.
Freitag, 24. Mai 2013
Der SPD Berlin ins Gebetbuch geschrieben
Was ich – und das nicht nur im Wahlkampf, sondern ganzjährig – richtig innovativ fände, wäre eine Kennzeichnungspflicht für Politiker. Sie stehen in der Öffentlichkeit, sie werden von der Öffentlichkeit bezahlt und könnten auf diese Weise natürlich auch sehr leicht in der Öffentlichkeit angesprochen werden. Ich fand diese Namensschildchen am Jackett schon immer ganz toll, manchmal sieht man in Berlin ganze Rudel Menschen, die alle mit einem freundlichen kleinen Schild gekennzeichnet sind. Sie haben kein Problem, ihren Namen und ihre Funktion preiszugeben, wenn sie in der Tagungspause bei Vapiano essen gehen oder bei Starbucks einen Latte Haumichblau und ein phantasievoll benanntes Gebäckstück erwerben. Selbst wenn der Generaldirektor der Raiffeisenbank von Pirmasens im vollen Ornat und mit glänzendem Namensschild auf der Heldenbrust ins KaDeWe marschiert, um seiner Gattin einen platinveredelten Parmesanhobelhalter zu kaufen, und anschließend mit der U-Bahn durch ganz Neukölln zum funktionierenden, alten Teil des Flughafens Schönefeld fährt, ist es den Berlinern so egal wie der Kantinenplan von letzter Woche.
Warum also keine namentlichen Kennzeichen für Parteimitglieder? Es eröffnet ganz neue und überraschende Gesprächsperspektiven im Alltag, die Politik wäre buchstäblich bei den „Menschen draußen im Lande“ und man bekäme ein permanentes Feedback für die erbrachten Leistungen. Umständliche Marketingstudien würden entfallen und neue Ideen bekämen die Damen und Herren Volksvertreter quasi rund um die Uhr aus vollen Fässern gezapft – ohne teure Beratungsagenturen, Anwaltskanzleien, Menschenbeobachter in Geheimdiensten und Trendforschungsbüros, Heerscharen von fragwürdigen „Interessenvertretern“, Finanzberater der Berater, andere Berater, die wieder Berater beraten, die dann irgendwann natürlich ratlos sind, endgültig den Überblick verlieren und nicht mehr funktionieren – Last Exit Urnengrab, Nervenheilanstalt oder mit ein wenig Glück auch die Job-Center-Resterampe.
Man muss in diesen wunderbar duftenden Maitagen nur ein wenig vor die Tür gehen, durch die längst kotfreien Straßen vieler Bezirke spazieren und einmal den Mund halten – dann kommen die Menschen und Ideen wie von selbst auf Sie zu, meine Damen und Herren von den Parlamentsfraktionen. Man darf sich gerade im Wahljahr nicht vor den 82 Millionen Arbeitgebern im Reichstag verstecken, wenn man seinen Zeitvertrag noch einmal verlängert haben möchte. Also nicht übermütig werden und dem Chef auf der Straße auch mal zuhören. Übrigens ist jeder Obdachlose und jeder Hartz IV-Empfänger auch einer Ihrer Arbeitgeber. Bewerben Sie sich jetzt! Zur optischen Aufbesserung habe ich als alter Vereinsfußballer noch eine Idee. Auf der Rückseite des Politikers einfach ganz groß und im bewährten sozialdemokratischen Rot das Parteikürzel anbringen: SPD.
Übrigens ist der einzige sympathische Sozialdemokrat, den ich in meinen drei Jahren im Brunnenviertel persönlich kennen- und sehr schätzen gelernt habe, ein gebürtiger Syrer und gelernter Berliner. Von solchen stillen und aufrechten Parteimitgliedern, denen es der Stolz ihrer uralten Kultur und ihre tadellose Erziehung in einem anständigen Elternhaus schlichtweg verbietet, den Herrenmenschentonfall eines neuzugezogenen Jungakademikers anzuschlagen, können – und jetzt enschuldigen Sie bitte einen kurzen Moment des Zorns – sich Menschen wie dieses unreife Früchtchen, dessen Namen ich hier nicht nennen möchte, weil er vermutlich sonst mit dem Rechtsanwalt seines Vaters in Westdeutschland droht (schließlich weiß er als frischgebackener Politikwissenschaftler und kluger SPD-Stratege, dass er den arbeitslosen Fachkollegen mit einem einzigen Prozess finanziell ruinieren und obdachlos machen kann), eine ganze Scheibe abschneiden. Der Mann leistet seit vielen Jahren großartige Arbeit für die Jugend im Kiez, seine Frau ist Krankenschwester und die beiden haben zwei wirklich tolle Kinder, die jetzt schon besser erzogen sind, als es viele namenlose Karriere-Alpinisten in sämtlichen Altparteien dieser Republik je seien werden.
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