Eines
Tages musste es ja passieren. Ich bin 56 Jahre alt und wohne seit über dreißig
Jahren in diesem Haus.
Sonntagmorgen,
7:15 Uhr. Ich steige in den Fahrstuhl. Nach zwanzig Zentimetern ist die Reise
zu Ende. Die Tür lässt sich nicht mehr öffnen, ich stecke fest. Was tun? Knöpfe
drücken, an der Tür rütteln. Dann der Alarmknopf, den sonst nur Kinder drücken.
Die Stimme einer Frau. Ich gebe die Adresse durch. In etwa dreißig Minuten darf
ich mit meiner „Befreiung“ rechnen. Eigentlich wollte ich nur zur Bäckerei
gegenüber. Bin barfuß in die Hausschuhe gesprungen und habe mir eine Regenjacke
übergeworfen.
Nun
stehe ich auf einem guten Quadratmeter Aufzugsboden aus der Kaiserzeit und habe
zum ersten Mal die Gelegenheit, mir die Kabine genau anzuschauen. Flecken,
Kratzer, die Paragraphen der Bedienungsanleitung. Tatsächlich auch zwei
geritzte Graffiti links und rechts. Dollarzeichen. Kapitalismuskritik oder Verherrlichung des Neoliberalismus? In Wilmersdorf ist das nicht so klar.
Nach
einer Stunde meldet sich die Frau von der Notrufzentrale wieder. Sie möchte
wissen, wie es mir geht. Es ginge mir besser, wenn ich schon meine
Frühstücksbrötchen hätte. „Verkehrsbedingt“ verzögere sich die Hilfe. In Berlin
gibt es sonntagmorgens keinen Verkehr. Ich setze mich auf den Boden. Man kann
hier noch nicht mal die Beine ausstrecken. Stille. Ich höre niemanden im
Treppenhaus.
Eine
halbe Stunde später erscheint der Mechaniker. Durch die geschlossene Tür teilt
er mir mit, dass er selbige nicht öffnen könne. Aber im Keller sei eine
Handkurbel. So komme ich nach eineinhalb Stunden doch noch frei, um meinen Weg
zur holden Bäckerin fortzusetzen. Ich erzähle ihr von meinem Erlebnis. Sie
fragt, ob ich Angst gehabt hätte. Ja. Mein größter Horror: Auf’s Klo müssen.
Ich hatte noch nicht mal Taschentücher dabei. Was ich die ganze Zeit gemacht
habe, möchte sie wissen. Hätte ich doch nur ein Smartphone, aber selbst mein
altes Nokia habe ich zuhause gelassen. Sie versichert mir, sie hätte einen
Herzinfarkt bekommen. Aber ich bekomme immerhin ein Croissant, ein halbes
Brötchen mit Rührei und ein halbes Brötchen mit Lachs.
Auf
dem Rückweg nehme ich die Treppe.
P.S.:
Am 1. März hatte ich mir mal wieder das I Ging gelegt. Dort stand in der
Interpretation des Zeichens folgendes: „Oben eine Sechs bedeutet: Mit Stricken
und Tauen gebunden, eingeschlossen zwischen dornenumhegten Kerkermauern; drei
Jahre findet man sich nicht zurecht. Unheil!“ Jetzt weiß ich, was gemeint war.
Eineinhalb Stunden. Für Berlin nicht schlecht. Vielleicht sollte man doch das gute, alte Reclamheft überall mit hinnehmen.
AntwortenLöschenGute Idee. Schillers "Räuber" aus dem Deutsch-Leistungskurs. Da vergeht die Zeit wie im Flug :o)
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